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Bis 20. Juni sollen die Farc-Rebellen ihre Waffen abgeben. Kolumbiens Bevölkerung zweifelt am Frieden.
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Bogotá. Die Kugel traf Isabella, als sie am Christtag mit ihrer Familie vor dem kleinen Friseurladen ihrer Tante Karen feierte. Die 12-Jährige verblutete auf den Stufen. Wäre sie wenige Wochen vorher erschossen worden, wäre sie eines der Zehntausenden Kinder gewesen, die dem über 50 Jahre anhaltenden Bürgerkrieg in Kolumbien zum Opfer fielen. Doch Isabella starb einen Monat, nachdem ein Friedensvertrag den längsten Bürgerkrieg Südamerikas offiziell beendet hatte.
Der Tod des Mädchens zeigt: Kolumbiens Frieden ist brüchig. Bis kommenden Dienstag, den 20. Juni, sollen alle Kämpfer der Rebellenorganisation "Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" (Farc) ihre Waffen niedergelegt haben. In entlegenen Demobilisierungszonen sollen die ehemaligen Staatsfeinde zudem zu braven Staatsbürgern umerzogen werden.
Trotz der zwischenzeitlichen Erfolgsmeldungen - angeblich wurden diese Woche schon mehr als die Hälfte der Waffen abgegeben - bezweifeln weiterhin viele Kolumbianer, dass das Experiment gelingen kann.
Zu lange dauert der Konflikt an: Die extrem ungerechte Verteilung des Wohlstands im Land führte 1964 zum Ausbruch des Konfliktes zwischen der Farc und der Armee. Als der Krieg nach mehr als fünf Jahrzehnten offiziell zu Ende ging, hatte niemand gewonnen, aber bis zu 220.000 Menschen hatten ihr Leben verloren. Folter, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Vertreibungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, der Einsatz von international geächteten Anti-Personen-Minen: Alle Kriegsparteien machten sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig, mehrere Friedensverhandlungen scheiterten - auch weil Drogengeld den teuren Krieg zuverlässig befeuerte.
Allerdings war es nicht nur Geld aus Drogengeschäften. Wie unlängst bekannt wurde, hat etwa der Bananenriese Chiquita Brands International jahrzehntelang mehrere Millionen US-Dollar an alle Akteure des bewaffneten Konflikts in Kolumbien gezahlt. Das berichtete das auf Lateinamerika spezialisierte Portal "amerika21" unter Berufung auf seit kurzem einsehbare Dokumente der US-Börsenaufsichtsbehörde (SEC).
Chiquita versuchte anscheinend durch die Zahlungen die Geschäfte im Land so normal wie möglich aufrechtzuerhalten.
Das große Geld wurde aber natürlich in Kolumbien mit Drogen verdient.
Nicht nur Pablos Escobars Medellín-Kartell machte während der Kriegswirren Milliarden-Geschäfte. Auch die ursprünglich marxistisch orientierte Farc wurde spätestens in den 90er-Jahren zur Narco-Guerilla. Zeitweise soll sie bis zu 60 Prozent des kolumbianischen Drogengeschäfts kontrolliert haben. Noch heute ist das Land der größte Kokain-Produzent der Welt. Um den Krieg zu beenden und das Drogengeschäft zu bekämpfen, unterschrieben Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos und Farc-Führer Timoleón Jiménez alias Timoschenko im vergangenen September einen Friedensvertrag. Die Welt feierte den Durchbruch, Santos erhielt den Friedensnobelpreis - doch die Bevölkerung lehnte den Vertrag wenige Tage später mit knapper Mehrheit ab. Die Welt war geschockt, viele Kolumbianer waren aber nicht überrascht. Nach über 50 Jahren Krieg waren Hass und Misstrauen oftmals größer als der Wunsch nach Versöhnung und Vergebung. Eine leicht überarbeitete Version des Friedensabkommens brachte Santos schließlich knapp zwei Monate später durchs Parlament. Die Bevölkerung wurde nicht ein zweites Mal gefragt.
Das Kinderhilfswerk Plan International sieht in dem Abkommen eine große Chance. Kinder und Jugendlichen, "wünschen nur Frieden und keine Rache", sagt Plan-Länderdirektorin Gabriela Bucher Balcázar.
Welche Hoffnungen verbinden die Kolumbianer mit dem Friedensprozess. Und warum befürchten sie, dass er scheitern könnte? Fünf Menschen berichten.
Das Opfer: Marta (28) hat im Krieg ihren Mann verloren und hat bis heute keinerlei Entschädigung erhalten.
Von Plan International erhielt die Eisverkäuferin ein Training als Kleinunternehmerin und ein Startkapital für ihr mobiles Geschäft.
"Ich habe gegen den Friedensvertrag gestimmt. Denn ich bin zwei Mal Opfer des Krieges geworden. Ich war vier Jahre alt, als meine Mutter mit meinem Vater in ein Tanzlokal ging, um den Muttertag zu feiern. Dort wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. So hat der Krieg mir die Mutter genommen. Und 13 Jahre später den Mann. Er kam gerade aus der Kirche, als er in eine Schießerei zwischen Guerillas und einer Drogenbande geriet. Er hat nie erfahren, dass ich ein Kind von ihm erwartete. Mittlerweile ist unsere Tochter zehn Jahre alt. Ich habe mich offiziell als Opfer registrieren lassen, aber ich haben nie einen Peso Entschädigung erhalten. Einer der Mörder meines Mannes wurde erschossen, ein anderer soll im Gefängnis sitzen. Ich glaube an Gott und habe versucht, ihnen zu vergeben. Aber das fällt mir schwer, und es gibt in unserem Land viele Opfer wie mich. Eigentlich hätte ich gerne mit "Ja" gestimmt. Denn nichts wünsche ich mir mehr als den Frieden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es in unserem Land je echte Versöhnung geben wird. Ich fürchte, dass der Krieg zurückkehren könnte. Ich möchte nicht noch einen Menschen verlieren. Ich habe große Angst um meine Tochter."
Der Soldat: Jefferson (31) war von 2003 bis 2014 Unteroffizier in der kolumbianischen Armee.
Er traut dem Frieden nicht.
"Ich habe gegen den Friedensvertrag gestimmt. Ich habe elf Jahre gegen die Paramilitärs, die Drogenkartelle aber vor allem gegen die Farc gekämpft. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen ich getötet habe, aber ich weiß, dass mehr als 50 meiner Kameraden im Kampf gefallen sind. Und jetzt sollen die Kämpfer der Farc mit dem Friedensvertrag dafür belohnt werden? Vor ein paar Tagen hat die Regierung ein geheimes Waffenlager der Farc ausgehoben. Dabei wollten sie doch eigentlich alle Waffen abgeben! Die Uniformen, das Befehlen, die Waffen - all das hat mir im Krieg sehr gut gefallen. Und ich glaube, dass ich als Soldat immer das Richtige getan habe. Wir haben die Rebellen mit militärischem Druck an den Verhandlungstisch gezwungen, sonst wäre noch heute Krieg. Sollte die Farc sich wiederbewaffnen, werde ich wieder gegen sie in den Krieg ziehen."
Die Friedensbotschafterin: Yadis (16) wurde von dem Kinderhilfswerk Plan International zur Friedensbotschafterin ausgebildet.
Sie glaubt an die Kraft der Versöhnung.
"Ich war noch zu jung, um am Referendum teilzunehmen, aber ich hätte für den Frieden gestimmt. Ich kann mich noch an die Schüsse und Explosionen während des Krieges erinnern. Wenn wir Angst hatten, haben wir uns im Haus meiner Großmutter versteckt. Auch heute gibt es hier noch viele Waffen. Wenn die Leute getrunken oder Drogen genommen haben, kann es schnell gefährlich werden. Die Erwachsenen haben nur gelernt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Aber ich glaube, dass wir Kinder und Jugendlichen die Kraft haben, etwas gegen den Hass der Alten zu tun. Es ist besser von einer guten Zukunft zu träumen, als immer an eine schlechte Vergangenheit zu denken. Ich glaube, dass Opfer und Täter in diesem Land eines Tages friedlich zusammenleben können. Aber dafür brauchen wir mehr internationale Unterstützung. Die bekommen wir bisher kaum, weil Kolumbien im Ausland ein sehr schlechtes Image hat. Drogen und Gewalt - das ist das einzige, was viele mit Kolumbien verbinden. Ich will helfen, dass sich das ändert."
Der Polizist: Juan Sebastián Cardona Escudero (21) arbeitet in Puerto Tejada, einer der gefährlichsten Städte Kolumbiens.
"Unbewaffnet traue ich mich nicht in bestimmte Ecken unserer Stadt. Dort sind jede Menge Revolver, Pistolen und Messer im Umlauf. Die Banden haben sie teilweise von den Gruppen, die im Bürgerkrieg gegeneinander gekämpft haben. Heute geht es nicht mehr um Politik, sondern ums Business. Die Banden, die oft im Drogenhandel aktiv sind, kämpfen um die Vorherrschaft. Dabei töten sie sich oft gegenseitig. Einige der Gangster konsumieren selbst viel Marihuana. Das macht sie gefährlich und unberechenbar. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass Unbeteiligte ins Kreuzfeuer geraten. Mit Law and Order allein wird man das Problem nicht lösen können. Wir müssen mit den meist jungen Bandenmitgliedern reden und ihnen echte Alternativen zur Kriminalität bieten."
Der Journalist: Jefferson Ospina Bedoya (28) ist Redakteur der Tagesszeitung "El País".
"Ich habe beim Referendum für den Frieden gestimmt. Ganze Generationen von Kindern sind in Kolumbien in Angst aufgewachsen. Sie haben gelernt, zwischen dem Krach einer Pistole und dem eines Sturmgewehrs zu unterscheiden. Damit muss endlich Schluss sein. Ich habe selbst drei Onkel verloren und wünsche mir nichts sehnlicher als den Frieden. Aber ich kann verstehen, warum so viele Menschen mit Nein gestimmt haben. Die Gegner des Friedensprozesses haben massiv Fake News verbreitet. Sie haben Lügen darüber in die Welt gesetzt, dass das Abkommen vor allem der Farc nutzt. Wir haben die Wahrheit berichtet, aber wir haben offenbar nicht genügend Menschen erreichen können. In Kolumbien ist es gefährlich, als Journalist zu arbeiten. Vielleicht sogar noch gefährlicher, seitdem offiziell Frieden herrscht, Seit Beginn des letzten Jahres sind 131 überwiegend linke Aktivisten ermordet wurden. Darunter auch Journalisten. Dahinter stecken wohl die Gegner des Friedensabkommens und Drogenbanden. Die Gangs fürchten, dass sie im Frieden schlechter Geschäfte machen können. Noch immer hat der Staat über weite Teile des Landes keine Kontrolle. Wir sind zwar kein ‚failed state‘, aber wir haben Bereiche, die dahin tendieren. Wenn der Staat nicht sofort das Vakuum schließt, das die bewaffneten Gruppen hinterlassen, besteht die Gefahr, dass die Drogenbanden das tun. Und dann droht ein neuer Krieg: die Kartelle gegen den Staat. Wie in Mexiko. Ich habe schon viele Morddrohungen bekommen. Ich habe eine Frau und einen Sohn. Natürlich mache ich mir Sorgen. Aber ich will weiter als Journalist arbeiten und weiter an den Frieden glauben. Was bleibt mir auch anderes übrig?"