Das Coronavirus kann tödlich sein. In den Genen und im Blut haben Forscher mögliche erste Warnzeichen gefunden.
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Eine Infektion mit einem Erreger löst üblicherweise eine wohl abgestimmte Choreografie der Abwehr aus: Natürliche Killerzellen werden aktiv, T-Helferzellen unterstützen B-Zellen bei der Bildung von Antikörpern, T-Killerzellen beginnen, infizierte Zellen zu zerstören, es werden in Antizipation von Blut- und Sauerstoffverlust mehr Blutplättchen für die Blutgerinnung gebildet.
Im Fall einer schweren Erkrankung an Covid-19 scheint die komplexe Choreografie zu entgleisen: "Normalerweise ist eine Infektion oder eine Virusabwehr ein selbstlimitierender Verlauf: Wir wissen, dass dabei bestimmte Botenstoffe zwischen den Zellen ausgeschüttet werden und bestimmte Zelltypen zu bestimmten Zeitpunkten auftreten. Bei manchen Patienten, besonders bei den Risikopatienten, passiert aber etwas, was dann einen schweren oder auch tödlichen Verlauf nach sich zieht. Die Patienten biegen quasi auf einmal falsch ab", sagt Philip Rosenstiel. Der Molekularbiologe der Universität Kiel hat mit verschiedenen Forschungsteams untersucht, wann das passiert und welche Prozesse schon früh auf ein solches "Abbiegen" hin zu einem unter Umständen tödlichen Verlauf hindeuten.
Nicht mit Grippe vergleichbar
Weltweit haben sich innerhalb eines Jahres über 115 Millionen Menschen mit dem neuen Coronavirus infiziert. 2,66 Millionen Menschen sind bisher an oder mit dem Virus gestorben, 519.519 allein in den USA. Die Ursachen, warum manche Menschen an Covid-19 sterben und andere nicht, manche beatmet werden müssen und andere nicht, sind noch weitgehend ungeklärte Fragen.
Covid-19 scheint Menschen besonders leicht dazu zu bringen, "abzubiegen": Das Risiko für Lungenembolie, Herzrhythmusstörung, Nierenversagen und Multiorganversagen ist bei Covid-19-Patienten im Vergleich zu Influenza-Patienten erhöht, ebenso die Sterblichkeit. Menschen mit Adipositas, einer Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen sind besonders stark gefährdet, ebenso wie Männer. "Covid-19 ist nicht vergleichbar mit anderen schweren Lungenerkrankungen. Noch nie haben wir derart viele Patienten mit schwerstem Lungenversagen wochenlang auf unserer Intensivstation gehabt, das ist kein Vergleich zur Grippe" berichtet Arschang Valipour, Abteilungsvorstand der Abteilung für Innere Medizin und Pneumologie der Klinik Floridsdorf in Wien.
Der Lungenspezialist beobachtet, dass zunehmend jüngere Patienten auf seiner Intensivstation sind, Menschen in ihren Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern. Er vermutet, dass dies eventuell mit der britischen Variante des Coronavirus zu tun haben könnte. Gemeinsam ist allen Intensivpatienten seiner Abteilung, dass sie zumindest zu einer der Top-3-Risikogruppen zählen: Sie leiden an Adipositas, haben einen Diabetes oder eine Form der Herzkreislauferkrankung. "Jeder Patient hat zumindest einen Risikofaktor, viele haben mehrere", sagt Valipour.
Um zu verstehen, was sich in den Patienten abspielt, wenn sie eine Infektion durchmachen, geraten die zellulären Prozesse der Immunabwehr ins Blickfeld der Forscher. Rosenstiel ist es gemeinsam mit anderen gelungen, Marker für einen schweren Verlauf zu identifizieren, indem sie das Auf- und Abebben von Zellen bestimmter Typen und von bestimmten Botenstoffen während einer Erkrankung beobachteten.
Im Zeitverlauf zu beobachten war für die Wissenschafter, dass die Immunreaktion teilweise überschießend ist, bis hin zu einem Kipppunkt, ab dem sich die Virusabwehr gegen den eigenen Körper wendet.
Unfertige Blutplättchen
Eine besondere Rolle scheinen dabei sogenannte Megakaryozyten zu spielen. Das sind unreife Zellen, die im Knochenmark gebildet werden und aus denen eigentlich einmal reife Blutplättchen werden sollen. Blutplättchen sorgen für die Blutgerinnung. Bei Covid-19 werden die unfertigen Blutplättchen auf einmal in großen Mengen aus dem Knochenmark gespült. Das passiert auch bei anderen schweren Erkrankungen, etwa einer Blutvergiftung. Bei Covid-19 tauchen die Megakaryozyten schon früh auf, obwohl noch keine akute Notsituation vorliegt. Ihr Auftauchen, stellte Rosenstiel fest, ist ein sicheres Erkennungszeichen für einen sehr schweren Verlauf. "Die Megakaryozyten außerhalb des Knochenmarks deuten darauf hin, dass der Körper die Infektion mit Sars-CoV-2 schon früh als absolute Notsituation interpretiert", so Rosenstiel.
Die Gerinnungszellen erklären auch, warum Covid-19-Patienten letztlich an Thrombosen versterben, an Lungenembolien und an zahlreichen Verstopfungen vieler kleiner Gefäße. Rosenstiel hofft, unter anderem über die Analyse der Gerinnung mögliche Ansätze für Therapien zu finden. Es kann sein, dass die unreifen Vorläuferzellen der Blutplättchen unter Covid-Bedingungen nicht dieselben sind wie unter Influenza-Bedingungen oder bei anderen Infektionen: "Wir haben gesehen, dass diese Megakaryozyten mehr gerinnen, weil sie in ihrem Energiestoffwechsel anders sind als die normalen Megakaryozyten. Das versuchen wir nachzuverfolgen, denn das können wir nutzen, um auch die langfristigen Folgen von Covid-19 zu behandeln."
Vieles deutet darauf hin, dass der Kampf gegen einen schweren Verlauf ein Kampf ist, der bei Covid-19 schon früh entschieden wird. So wirken antivirale Medikamente oder auch eine hochdosierte Antikörpertherapie mit dem Blutplasma von Menschen, die schon eine Erkrankung durchgemacht haben und die außerdem sehr viele Antikörper haben - einen sehr hohen Titer -, nur dann, wenn sie eingesetzt werden, bevor der schwere Verlauf beginnt: "Nur wenn man die Erkrankung früh entdeckt und früh behandelt, hat man Glück im Unglück sozusagen", erklärt Valipour. "Wenn man erst nach sieben bis zehn Tagen kommt, wenn aus zuerst milden Beschwerden schon starke Beschwerden geworden sind, kann man weder mit den antiviralen Medikamenten noch mit der Antikörpertherapie behandeln. Dann ist es meistens schon zu spät, da sind schon so viele Mechanismen im Körper ausgelöst worden, die nur schwer aufzuhalten sind."
Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Virologin der MedUni Wien, sucht nach Therapieansätzen, die eine Virusvermehrung im Körper unterbinden. "Wir müssen die genetischen Marker oder auch andere Situationen der Interaktion von Virus und menschlichen Zellen identifizieren, die dafür sorgen, dass sich das Virus besser vermehren oder mehr Schaden anrichten kann", sagt sie.
Diesem Ziel ist Puchhammer-Stöckl kürzlich einen Schritt näher gekommen. Sie konnte zeigen, dass das Fehlen eines bestimmten Rezeptors auf den Natürlichen Killerzellen (NK-Zellen), einen schweren Verlauf begünstigt. Die NK-Zellen sind unter den ersten, die bei einer Infektion reagieren. Sind ihre Rezeptoren beeinträchtigt, fällt schon diese erste Immunreaktion zu schwach aus. 34 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben den Rezeptor genetisch bedingt nur unzureichend oder gar nicht.