Die eingeschüchterte Opposition fürchtet schon, was nach einem Sieg Erdogans kommen könnte.
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Samsun. Die Polizisten werden nervös, ihre Funkgeräte piepen aufgeregt, und da ist sie auch schon, die Traube von Kameras, Bodyguards und schwitzenden Anzugträgern um den Kandidaten. Es ist zehn Uhr morgens, die Händler im Basar der türkischen Schwarzmeer-Metropole Samsun sitzen vor ihren Geschäften, trinken Tee miteinander und blicken schläfrig auf das vorbeiziehende Spektakel. Die Traube wirbelt weiter, bis sie vor einem Stand mit Hemden stoppt. Jetzt erst kann man den gut gekleideten Herrn mit dem weißen Schnurrbart in ihrer Mitte erkennen. "Ekmel Bey", raunt es. Es ist Ekmeleddin Ihsanoglu, der Kandidat der zwei größten türkischen Oppositionsparteien bei der ersten direkten Wahl des Staatsoberhauptes am kommenden Sonntag, zu der 52,9 Millionen Türken aufgerufen sind.
"Ekmel Bey", "Herr Ekmel", wie man ihn nennt, da kein Türke den arabischen Vornamen aussprechen kann, wechselt ein paar Worte mit dem Händler, schüttelt Hände für die Kameras, und schon geht es weiter durch die engen Gassen im riesigen Basar von Samsun. Alle fünfzig Meter wiederholt sich das Spektakel, Händler und Verkäuferinnen grüßen, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Es dauert einen Moment, bis man begreift: Da kommt der mögliche zukünftige Staatspräsident, um Wahlkampf in einer der größten Städte des Landes zu machen - und es bleibt gespenstisch still. Keine Hochrufe, kaum einmal Klatschen, zwar neugierige, aber reservierte Gesichter.
Kein Gegner ist dem Premier gewachsen
Umstehende Händler sagen, es gebe durchaus Sympathien für Ihsanoglu, er sei integer, ehrlich und fromm, aber niemand traue sich, offen für ihn Partei zu ergreifen. "Man würde sofort Ärger bekommen", sagt ein Goldhändler, der sich zum Kandidaten bekennt, aber den eigenen Namen nicht nennen will. Ein Kollege vom Haushaltswarengeschäft nebenan nickt zustimmend. "Niemand möchte sich mit denen da oben anlegen", sagt er.
Der fehlende Beifall für den Oppositionskandidaten ist das eine - das andere die wie aus dem Nichts aufflackernde Aggression. Als Ihsanoglu sich zum Ende seines halbstündigen Basarrundgangs mit einigen Kaufleuten vor einem Laden zum Tee hinsetzt, beschweren sich Arbeiter bei ihm über die schlechte Behandlung durch einen Patron. Plötzlich Aufruhr, zwei Männer brüllen, stürzen sich wütend auf die Reklamanten - bis Ihsanoglus Bodyguards sie überwältigen und abführen. "Das passiert leider überall", sagt ein Mitarbeiter aus dem Wahlkampftross. "Die Erdogan-Anhänger sind nicht zu bremsen."
Je näher der Wahltermin rückt, desto mehr steigt die Spannung. Das Land ist nervös, denn es steht vor einer wegweisenden Alternative - vor einem historischen Umbruch zwischen Demokratie und Autokratie, wie viele Beobachter glauben. Recep Tayyip Erdogan, der 60-jährige übermächtige Ministerpräsident und Chef der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), bewirbt sich um das Amt des Staatspräsidenten, das bislang sein Parteifreund und langjähriger Wegbegleiter Abdullah Gül innehat.
Wegen einer parteiinternen Richtlinie, die AKP-Mitgliedern mehr als drei aufeinanderfolgende öffentliche Amtszeiten verbietet, kann Erdogan bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr nicht wieder als Premier antreten. Sollte er Staatspräsident werden, werde er kein sanfter, repräsentativer Amtsträger sein, versprach er, sondern die exekutiven Befugnisse der Verfassung bis zum Äußersten ausreizen.
Erdogans größter Gegner ist der polyglotte, konservativ-liberale 71-jährige frühere Diplomat und Islamwissenschaftler Ekmeleddin Ihsanoglu. Den tiefreligiösen Mann haben die beiden größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), als Gemeinschaftskandidaten aufgestellt, um in Erdogans konservative Wählerschaft einzubrechen. Ihrem Bündnis - ein absolutes Novum in der Türkei - haben sich mittlerweile 13 kleinere, nicht im Parlament vertretende Parteien von rechts und links angeschlossen.
Auch der dritte Kandidat ist eine kleine Sensation, denn mit Selahattin Demirtas tritt erstmals ein prokurdischer Politiker in einer landesweiten Wahl an. Der 41-jährige Menschenrechtsanwalt ist Ko-Vorsitzender der linken Partei der Völker (HDP), deren Wähler bisher vor allem aus den rund 15 Millionen Kurden des Landes stammen, die aber auch auf die Linken, die Arbeiter und die Minderheiten zielt. Anders als Ihsanoglu ist Demirtas ein Vollblutpolitiker, der mitreißend und schlagfertig reden kann.
Alle drei Bewerber haben die Abstimmung zur Schicksalswahl erklärt. Erdogan will als Präsident eine "neue Türkei" schaffen und damit mit "die Macht der Türkei stärken", die beiden anderen Kandidaten warnen vor einer heraufziehenden Diktatur, falls Erdogan gewinnt. Laut einer am Donnerstag veröffentlichen Wahlumfrage liegt der Premier erwartungsgemäß mit rund 57 Prozent der Stimmen vorne, während Ihsanoglu mit 34 und Demirtas mit neun Prozent rechnen können. Doch es gibt bei diesem Urnengang mit seiner nur knapp sechswöchigen Wahlkampfzeit zu viele Unbekannte. "Es ist praktisch unmöglich, eine seriöse Vorhersage zu machen", sagt Mehmet Atalay, der CHP-Vorsitzende von Samsun, der seinen Kandidaten am Donnerstag durch den Basar führt.
Der 56-jährige studierte Ingenieur ist ein braungebrannter, drahtiger Mann, der wie Ihsanoglu gut Englisch spricht. "Mit wenigen Ausnahmen ist die Schwarzmeerküste Erdogan-Land", sagt er. Die Familie des Premiers stammt aus der Teeanbaustadt Rize, auch in der 600.000-Einwohner-Stadt Samsun regiert die AKP seit drei Wahlperioden mit einer soliden Mehrheit. "Wir haben es schwer hier, aber die AKP arbeitet auch mit absolut unfairen Mitteln." Atalay schätzt, dass auf tausend Erdogan-Plakate in der Stadt eines von Ihsanoglu kommt, während Demirtas im Wahlkampf öffentlich praktisch nicht vorkommt. Und während die AKP Dutzende von Lautsprecherwagen durch die Stadt fahren lasse, habe die Opposition gerade zwei Kampagnenautos.
"Es herrscht keine offene, demokratische Atmosphäre"
Erdogan könne als Regierungschef staatliche Mittel für seine Kampagne nutzen, auf die die Opposition keinen Zugriff habe, sagt Mehmet Atalay. "Er lässt Geld in den Dörfern verteilen. Er verfügt über einen Etat von umgerechnet rund 80 Millionen Euro, während wir eine Million haben. Die großen Medien werden von der Regierung kontrolliert und geben uns bedeutend weniger Sendezeit als Erdogan. Als wir beantragten, Plakate an Brücken und öffentlichen Gebäuden aufzuhängen, wurde das abgelehnt. Umso verblüffter waren wir, als dann dort überall Erdogan-Poster hingen." Atalay spricht über die tiefe Spaltung des Landes, die Erdogan mit seiner "extrem rechten Politik" und seinen "Hassreden" gegen Minderheiten und die Opposition jeden Tag weiter vertiefe. Mehrfach seien CHP-Mitglieder angepöbelt, bedroht und verprügelt worden, als sie Flugblätter für die Wahl von "Ekmel Bey" verteilen wollten. "Natürlich sind die Menschen eingeschüchtert. Es herrscht keine offene, demokratische Atmosphäre."
Die größte Unbekannte aber ist die Wahlbeteiligung, denn die Wahl wurde auf den für die Türkei denkbar ungünstigsten Termin gelegt. Alle Schulen und Universitäten sind geschlossen, es ist Ferienzeit. Wer es sich leisten kann oder ein Haus an der Küste besitzt, ist ans Mittelmeer gefahren. Da es keine Briefwahl gibt, hat die AKP offenbar darauf gesetzt, dass die gut situierte Anhängerschaft der säkularen Opposition nicht daran denkt, sich am Urlaubsort ins Wahlregister eintragen zu lassen. "Aber ich habe mit Freunden telefoniert, die im Urlaub sind", sagt Mehmet Atalay. "Sie haben mir versprochen, dass sie wählen gehen."
Hat Erdogan sich mit dem Wahltermin verrechnet?
Trotzdem könnte es sein, dass Erdogan sich verkalkuliert hat. Denn nicht nur die besser verdienenden Oppositionswähler aus der Mittelschicht, sondern auch viele seiner Anhänger aus den unteren Einkommensschichten sind im August nicht zu Hause. Derzeit ist Hochsaison im Tourismus und zugleich Haupterntezeit. Millionen von Wanderarbeitern haben ihre Dörfer in Ostanatolien und am Schwarzen Meer verlassen, um in den Hotelburgen an der Ägäis zu jobben oder Pfirsiche, Kirschen, Haselnüsse in den Anbaugebieten einzubringen. Die Schwarzmeerküste von Samsun bis Giresun ist Haselnussland - hier werden 85 Prozent der Weltmarktproduktion für Marken wie Ferrero, Nestlé oder Nutella erzeugt.
"Wir können hier nicht wählen", sagt die 23-jährige Neslihan Atlihan aus der kurdischen Stadt Adiyaman, die mit zwölf Schwestern, Brüdern und Tanten derzeit in den dicht mit Sträuchern bewachsenen Hügeln bei Giresun Haselnüsse pflückt. "Wir sind 15 Tage hier, um Geld zu verdienen - ich kann nicht 19 Stunden mit dem Bus nach Hause fahren", sagt die junge Frau. Obwohl sie und ihre Verwandten Kurden sind, schwören sie auf den nationalistischen Türken Erdogan. "Er hat uns Frieden gebracht, er gibt uns Kindergeld und Kohle im Winter." Doch nüchtern betrachtet, hat Erdogan allein auf diesem Haselnusshügel zwölf Stimmen verloren.
Immerhin kann er auf die meisten Bauern zählen, auf deren Land die Pflücker arbeiten. "Wir wählen Erdogan, weil er uns unterstützt. Für jeden Hektar Land bekommen wir einen Zuschuss vom Staat", berichten der 33-jährige Ali Arslan und seine fünf Jahre jüngere Frau Ayse, denen fünf Hektar Land mit Haselnusssträuchern in einem Bergdorf bei Samsun gehören.
"Übers Jahr ergibt das 4000 Lira" - rund 1350 Euro. Für die AKP sprechen seiner Meinung nach viele weitere Faktoren. "Die Regierung hat eine richtige Straße in unser Dorf gebaut. Jeden Tag kommt jetzt ein Bus. Wenn wir krank werden, kommen Ärzte ins Dorf und helfen." Außerdem gibt es Geld für die vier Kinder, eine Pension für den Vater. "Wir haben Angst, dass die anderen uns das wegnehmen wollen."
Eine große Verunsicherung hat die Menschen zwischen Rize und Samsun befallen. Sie spüren die Anzeichen einer Krise. Im Basar sind sie zwar für Erdogan, aber sie haben Angst vor der Zukunft. "Seit dem vergangenen Dezember sind unsere Umsätze um mehr als 30 Prozent eingebrochen", sagt der 29-jährige Kleidungsverkäufer Arkan. "Die Leute aus den Dörfern kommen nicht mehr, weil sie ihr Geld und die Subventionen für Lebensmittel brauchen."
Arkan erklärt sich die ökonomischen Probleme mit dem Hass böswilliger Feinde auf Erdogan - damals wurde der Korruptionsskandal publik, der das unmittelbare Umfeld von Erdogan tief erschütterte. Die unterentwickelte Schwarzmeerregion spürt die aufziehende Krise besonders stark. Die Arbeitslosigkeit liegt nahe 20 Prozent. Nicht nur das Land, auch die großen Städte verlieren Einwohner, die nach Istanbul oder an die Ägäisküste auswandern, um Arbeit zu finden. Zurück bleiben die Alten und die Kinder und all jene, die von den sozialen Wohltaten abhängig sind, besonders auf dem Land.
Die AKP-Politiker der Region erkennen vor allem das Positive. "Die Leute sehen unsere Erfolge: den neuen Flughafen, die Umgehungsstraßen, die Subventionen. Wir holen hier über 60 Prozent", sagt Hüseyin Akyol, der Parteivorsitzende in der Provinz Ordu. "Erdogan ist emotional, entschlossen und aggressiv. Seine Aggressivität ist typisch für unsere Region. Sie ist notwendig, und die Menschen in der Türkei wollen keine sanften Langweiler."
Fragt man Passanten auf der Straße, dann trifft das den Nagel auf den Kopf. Zwar wollen die meisten sich nicht äußern, aber wer es tut, ist in der Regel ein Anhänger Erdogans. "Tayyip ist ein richtiger Mann", sagt eine 30-jährige Rückkehrerin aus Deutschland, die in Samsun als Friseurin arbeitet. "Und wir Türken lieben richtige Männer." So gesehen war die Opposition schlecht beraten, einen moderaten, weltgewandten Gentleman wie Ekmeleddin Ihsanoglu für die Präsidentschaftswahl aufzustellen.
Zum Abschluss seiner Tour durch Samsun erwarten ihn mehr als 300 Frauen und Männer im Vortragssaal eines großen Hotels, um ihn kennenzulernen. "Er spricht fünf Sprachen! Er ist Honorarprofessor von 20 Universitäten! Er wird Lösungen bringen für die Türkei: Professor Doktor Ekmeleddin Ihsanoglu!", ruft ein Sprecher. Beifall brandet auf. Zum donnernden Wahlkampfsong, der dem seines Konkurrenten kaum nachsteht, betritt der Kandidat den Saal. Doch er tritt nicht an ein Rednerpult, sondern nimmt an einem kleinen Tisch Platz und beginnt mit sanfter Stimme seinen Vortrag.
Ihsanoglu verliert bei seiner Rede die Zuhörer
Ekmeleddin Ihsanoglu spricht über die gefährliche Spaltung des Landes, über den "unfairen Wahlkampf vom ersten Moment an" und über die sozialen Hilfen, die bereits frühere Regierungen einführten. Er sagt, dass Erdogan über einen Boykott israelischer Waren rede, während sein Sohn diese gleichzeitig importiere. Er erklärt mit leiser Stimme: "Die Regierung hat 18 Millionen mehr Stimmzettel drucken lassen, als gebraucht werden. Wozu?" Argumentativ ist er gut, aber er verliert die Zuhörer. Manche beginnen zu tuscheln, andere stehen auf und gehen, ein Mann sagt: "Er ist zu weich. Er müsste auf den Tisch hauen!"
Ihsanoglu scheint die Veränderung zu spüren und hebt endlich einmal die Stimme. Er sagt: "Die Türkei ist von einem Ring aus Feuer umgeben: Syrien, Irak, Isis - überall brennt es. Aber der Ministerpräsident löscht nicht, sondern gießt noch Öl hinein. Das ist brandgefährlich für unser Land!" Die Menschen klatschen, stehen auf, rufen "Ja!" Zum Schluss appelliert der Kandidat an seine Zuhörer, unbedingt zur Wahl zu gehen. "Es geht um unsere Zukunft. Lasst nicht zu, dass das politische System geändert wird. Gebt eure Stimme für die Einheit!" Ein junger Mann sagt: "Mir hat er gefallen. Das Land braucht nicht noch mehr Aufregung. Wir brauchen einen, der uns beruhigt und zusammenführt."