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Der Kampf um die Einheit des Staates

Von Friedrich Weissensteiner

Politik

Länderkonferenz ebnet Weg für demokratische Wahlen. | Beispiel Berlin schürt Angst in Österreich. | Wien. Anfang Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war Österreich dem Namen nach wieder eine Republik. Die Alliierten hatten das Land von der NSHerrschaft befreit, aber es war nicht frei. Bis zur Erlangung seiner vollen Souveränität sollten noch zehn Jahre vergehen. Das konnte jedoch damals niemand wissen, nicht einmal die Staatsmänner der (Welt-) Mächte, in deren Händen die Schaffung einer Nachkriegsordnung lag.


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Die Autorität der von der Roten Armee im Auftrag Stalins installierten Regierung Renner reichte über den sowjetischen Machtbereich nicht hinaus. Renner und sein Kabinett stießen bei den westlichen Alliierten auf heftige Ablehnung. Sie hielten den greisen Staatsmann, der 1938 beim Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, für eine Marionette des sowjetischen Diktators. Das Misstrauen war unbegründet, wie sich bald herausstellen sollte.

Briten und Amerikaner gegen Renner

Die größten Vorbehalte gegen die provisorische österreichische Regierung äußerten die Briten. Aber auch die Amerikaner standen ihr mehr als skeptisch gegenüber. Ihr Geschäftsträger in Moskau, der renommierte Sowjetkenner, George F. Kennan, riet dem Weißen Haus dringend von einer Anerkennung ab. Die US-Regierung nahm vor allem an der Betrauung des Innenressorts mit einem Kommunisten Anstoß. Auf der Konferenz von Potsdam, die vom 17. Juli bis 2. August tagte, wurde Stalins Vorschlag die Kompetenz der Regierung Renner auf ganz Österreich auszudehnen, denn auch prompt zurückgewiesen.

Im Schlussprotokoll wurde festgehalten: "Die Konferenz hat einen Vorschlag der Sowjetregierung über die Autorität der österreichischen provisorischen Regierung auf ganz Österreich geprüft. Die drei Regierungen kamen überein, dass sie diese Frage überprüfen würden, nachdem die britischen und amerikanischen Truppen in Wien eingezogen waren..."

Unterdessen war mit dem "Ersten Kontrollabkommen" eine Militärregierung für ganz Österreich installiert worden. An ihrer Spitze stand der aus den Oberbefehlshabern der vier Besatzungsmächte bestehende Alliierte Rat, in dessen Händen die oberste Staatsgewalt lag. Er trat nach einem Zonenabkommen, in welchem unter anderem die Viermächtebesetzung Wiens beschlossen worden war, am 11. September 1945 im Haus der Industrie am Schwarzenbergplatz, der damals allerdings Stalinplatz hieß, zu seiner ersten Sitzung zusammen. Mehr als zweihundert sollten ihr noch folgen.

Der Regierung Renner sind vollends die Hände gebunden. Aber der mit allen politischen Wassern gewaschene Staatskanzler lässt sich nicht entmutigen. Er verfolgt unbeirrbar seine Ziele, und das erste und oberste, das ihm vorschwebt, ist die Wiederherstellung der Einheit des Landes. Denn Österreich ist nicht nur in vier Besatzungszonen geteilt. Die Regierung Renner stößt auch in den westlichen Bundesländern auf großes Misstrauen.

Karl Gruber: Wichtige Gegenstimme aus Tirol

Wortführer der Anti-Wien-Stimmung ist der Tiroler Karl Gruber. Gruber, der im Widerstand tätig gewesen ist, hat in Tirol die "Österreichische Staatspartei" gegründet und will eigenständige politische Wege gehen. Als er davon informiert wird, dass der Provisorischen Staatsregierung in Wien auch Vertreter der ÖVP angehören, ist er bereit, mit Renner und seinem Kabinett Kontakte aufzunehmen. Bei Besprechungen von ÖVP-Politikern in Salzburg im Sommer 1945 werden alle Überlegungen, im Westen eine Gegenregierung zu bilden, verworfen. Man stellt allerdings zwei Bedingungen: Renner müsse Vertreter der westlichen Bundesländer in seine Regierung aufnehmen und den kommunistischen Staatssekretär für Inneres, Franz Honner, aus dem Kabinett entlassen.

Zur Besprechungen dieser und anderer entscheidender Fragen lädt der Staatskanzler die bürgerlichen Politiker ein, am 24. September an einer Länderkonferenz teilzunehmen. Eine Reise von Vorarlberg und Tirol nach Wien war damals freilich mit heute kaum mehr vorstellbaren Hindernissen und Schwierigkeiten verbunden. Man brauchte dazu die Zustimmung der Militärbehörden, Zonengrenzen waren zu überwinden, die Verkehrsbedingungen waren miserabel. Einige Delegierte benötigten für die Fahrt nach Wien sage und schreibe drei Tage!

Oberösterreich findet den Kompromiss

Die Konferenz im Landtagssaal des Niederösterreichischen Landtages in der Wiener Herrengasse verlief nicht konfliktlos. Die kommunistischen Regierungsmitglieder wollten das Innenministerium nicht preisgeben, und auch der Kanzler hielt mit Rücksicht auf die sowjetischen Besatzungsmacht an Franz Honner fest. Schließlich fand man durch Vermittlung von Ernst Koref, des sozialdemokratischen Bürgermeisters von Linz, einen Kompromiss. Dem Innenminister wurde aus den Reihen der ÖVP ein Unterstaatssekretär zur Seite gestellt.

Die Regierung wurde um Politiker aus Westösterreich erweitert, Karl Gruber erhielt den Posten eines Unterstaatssekretärs für Äußeres. Außerdem wurden freie Wahlen in Aussicht genommen, die noch vor Jahresende abgehalten werden sollten. Auf einer 2. Länderkonferenz, die vom 9. bis 11. Oktober in Wien stattfand, legte man die Nationalratswahl für den 25. November fest.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse lenkten die Westmächte ein. Am 20. Oktober wurde das Kabinett Renner auch von ihnen anerkannt und ihr Aktionsradius auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt. Die Einheit des Landes war damit, zumindest vorderhand, gesichert.

Wahlkampf 1945 mit den alten Angstparolen

Der Wahlkampf für die Nationalratswahl am 25. November war kurz, aber trotz der beschränkten Werbemittel heftig und wurde zum Teil mit Angstparolen aus der Zeit vor 1938 geführt. Die ÖVP bezichtigte die Sozialisten, mit der KPÖ eine Diktatur des Proletariats anzustreben. Die SPÖ warf der ÖVP, die in ihren Augen die Nachfolge der Christlichsozialen angetreten hatte, vor, 1933/34 die Demokratie ausgeschaltet und im Ständestaat der Jahre 1934-38 die Annexion Österreichs durch Adolf Hitler vorbereitet und schließlich ermöglicht zu haben.

Persönlicher Einschub: Ich war damals 18 Jahre alt und habe davon in meinem Heimatort im oberen Waldviertel wenig bemerkt. Da das Wahlalter 21 Jahre betrug, war ich nicht wahlberechtigt, führte aber im Auftrag der gemeindeamtlichen Wahlbehörde in einem Wahlsprengel das Wählerverzeichnis. Die erste demokratische Wahl im neuen Österreich ist mir aus dieser Sicht deutlich in Erinnerung geblieben.

Wahlberechtigt waren übrigens lediglich etwa dreieinhalb Millionen Menschen, da die ehemaligen Nationalsozialisten von der Wahl ausgeschlossen waren und viele Soldaten, die in der Deutschen Wehrmacht gedient hatten, noch nicht in die Heimat zurückgekehrt waren. Zwei Drittel der Wähler waren Frauen.

Absolute Mehrheit

für die ÖVP

Das Wahlergebnis kam bei einer Wahlbeteiligung von 94 Prozent (!) selbst für Kenner der politischen Verhältnisse überraschend: Die ÖVP erzielte mit 49,8 Prozent der gültigen Stimmen 85 Mandate und damit die absolute Mehrheit. Die SPÖ errang 76 Nationalratssitze, die KPÖ erlitt eine schwere Niederlage. Sie kam lediglich auf 4 Sitze.

Friedrich Weissensteiner

ist Publizist in Wien.