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Der 16. Jänner 1920 war wohl einer der merkwürdigsten Tage in der amerikanischen Geschichte: In den Straßen der Großstädte verkehrte eine große Zahl von Autos, Fuhrwerken und anderen Gefährten, vollbeladen mit Flaschen, Kanistern und Fässern mit diversen Alkoholika. Aus San Francisco wird von Handgreiflichkeiten berichtet, als bei einem Unfall die wertvolle Ladung zu Schaden kam; Saloons, Brauereien und Liquor Stores machten die wohl größten Umsätze ihrer Geschichte.
Damit sollte einen Tag später Schluss sein. Ab 17. Jänner 1920 trat der 18. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten in Kraft, der die Produktion, den Verkauf, Transport, Import und Export alkoholischer Produkte unter Strafe stellte. Das sollte auch den (privaten) Konsum von Alkohol praktisch unmöglich machen. So dachte man zumindest.
Für viele kam dieses radikale Verbot nicht überraschend. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts fanden Gruppen, die aus überwiegend religiösen, aber auch aus medizinischen Gründen für Mäßigung oder Enthaltsamkeit (temperance) beim Alkoholkonsum eintraten, immer mehr Zuspruch.
Omnipräsenter Alkohol
Alkohol war in der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein sehr weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen. Der amerikanische Historiker William J. Rorabaugh beschäftigt sich mit der Rolle des Alkohols in der Gesellschaft und bringt die soziale Bedeutung des Trinkens im 19. Jahrhundert auf den Punkt: "Die Amerikaner tranken vom Morgengrauen bis zum Morgengrauen."
In allen Gesellschaftsschichten (religiöse Kreise ausgenommen) und bei allen Gelegenheiten wurde getrunken. In vielen Haushalten wurde Schnaps auch im Vorzimmer gelagert, um bei kurzen Besuchen rasch etwas anbieten zu können. Statt schnell "auf einen Café" ging man auf etwas Hochprozentiges. Die Dichte der Saloons und Kneipen war besonders in den Städten des Industrial Belts und im Süden sehr hoch, oft gab es gar keine alkoholfreien Getränke zu kaufen. Die Folgen waren nicht verwunderlich: Die Zahl der Leberzirrhosen stieg enorm an, ebenso die Häufigkeit der sozialen Probleme durch Alkoholismus, die Zahl der durch Alkohol bedingten Unfälle, besonders bei der Arbeit, kann nur geahnt werden. In den Industriestädten des Nordostens war der Montag nur ein "halber" Arbeitstag wegen der Exzesse an den davorliegenden Wochenenden.
Um 1810 lag der Verbrauch an reinem Alkohol in den USA bei 26,46 Liter pro Kopf (ab 16 Jahren). Heute werden weniger als ein Drittel davon konsumiert.
Die Frauen um Eliza Jane Trimble Thompson (1816-1905) hatten also ihre Gründe, als sie im Dezember 1873, inspiriert durch einen Wanderprediger, singend und betend die Saloons und Liquor Stores im heimatlichen Hillsboro, Ohio, belagerten und deren Besitzer zur Aufgabe ihrer unmoralischen Tätigkeit bewegen wollten. Sie hatten beachtlichen Erfolg: Einige der Saloons schlossen ihre Pforten, und alle, die weitermachten, wurden zunehmend sozial geächtet. Die Bewegung von Frau Thompson verbreitete sich vor allem im mittleren Westen und Neuengland und bündelte sich in der "Woman’s Christian Temperance Union" (WCTU), deren Aktivitäten später von der wesentlich radikaleren "Anti Saloon League" übernommen wurde.
Andere Aktivistinnen waren weit weniger zimperlich: Carry Amelia M. Nation (1846-1911) war mit einer Hacke unterwegs, um Saloonbesitzern ihre Meinung über den Alkohol klar zu machen. Nachdem sie den jeweiligen Saloon zu Kleinholz verarbeitet hatte, verbrachte sie meist eine Nacht im Gefängnis, zahlte 100 Dollar - ein Klacks für die Dame aus gutem Haus - und einige Tage später musste der nächste Saloon daran glauben. Schadenersatzklagen gab es so gut wie nie.
Viele der Kämpferinnen gegen Alkohol, wie Susan B. Anthony (1820-1906), kamen aus den Reihen der Frauenrechtlerinnen, waren gebildet, gut situiert, und hatten neben der Forderung nach Ausschankbeschränkungen auch konkrete juristische Anliegen wie das Recht der Frauen auf Besitz von Grund und Immobilien, um deren Verlust im Falle von Trunksucht der Ehegatten zu verhindern. Auch das Recht auf Scheidung von Alkoholikern und verstärkter Kinderschutz wurde gefordert. Extreme Frauengruppen proklamierten sexuelle Abstinenz, um trinkende Männer zu bestrafen.
Als Susan B. Anthony im Jahre 1852 in Albany als führendes Mitglied der Frauengruppe "Daughters of Temperance" vor den gleichgesinnten "Sons of Temperance" sprechen wollte, wurde ihr allerdings vom Vorsitzenden Redeverbot erteilt, mit der Begründung, dass Frauen nicht reden, sondern "zuhören und lernen sollten". Das Porträt der heute hochangesehenen Anthony wurde mehrmals, zuletzt 1999, auf einer Ein-Dollar-Münze verewigt.
Aber Mitte des 19. Jahrhunderts war die Zeit für bundesweite gesetzliche Beschränkungen noch nicht reif. Immer mehr Saloons entstanden, viele Männer sahen im Trinken den einzigen Ausweg aus den tristen Arbeits- und Wohnverhältnissen.
Saloons waren ja nicht der Hort des Bösen, sie übten eine wichtige soziale Funktion aus: Sie waren Versammlungspunkt für Neuankömmlinge, Arbeitsvermittlung, boten Einwanderern, die noch keine Unterkunft hatten, eine Postadresse, hatten öffentliche Toiletten und Waschgelegenheiten. Die Saloonbesitzer waren meist alles andere als reich, sondern standen bei den Brauereien, denen sie hohe Lizenzen zahlen mussten, in Kreide. Auf der anderen Seite wurde Alkohol oft an Minderjährige ausgeschenkt und das Sonntagsruhegesetz missachtet.
Zwar preschte Maine 1851 mit einem ersten Verkaufs- und Produktionsverbot von Alkohol vor, später gefolgt von einigen Gemeinden und anderen Bundesstaaten, aber es gab auch heftige Proteste gegen diese Verbote, vor allem unter den irischen und deutschen Einwanderern, die auf ihr Bier nicht verzichten wollten.
Einer der schillerndsten Protagonisten der Gegenseite, der "Anti Prohibition Movement", war der deutsche Einwanderer Adolphus Busch (1839-1913), das 21. Kind einer rheinischen Handelsfamilie. Er brachte es durch zahlreiche Industriegründungen zu sagenhaftem Reichtum und war Produzent des jedem USA-Reisenden bekannten Budweiser Biers. Er investierte Unsummen in eine Pro- Alkohol-Kampagne und wies auf die wirtschaftliche Bedeutung der Alkoholindustrie als Arbeitgeber und Steuerzahler hin. Dass Busch 1913 an Leberzirrhose starb, war natürlich Wasser auf die Mühlen seiner Gegner.
Druck der Lobbyisten
Um 1880 konnte die zuvor erwähnte WCTU unter der energischen Leitung von Mary H. Hunt (1830-1906) erste größere Erfolge erzielen: Hunt erreichte nach heftigem Druck ihrer Lobby in Verhandlungen mit den nationalen Schulverwaltungen, dass Aufklärung über die Gefahren von Alkohol als fächerübergreifendes Prinzip in den Unterricht aufgenommen wurde, wobei es mehr um Propaganda als um wissenschaftliche Information ging. So wurde behauptet, der Genuss von Alkohol verbrenne die Haut. Hunt konnte sogar durchsetzen, dass die meisten Schulbücher vor Erscheinen von ihr nach Textstellen über Alkohol überprüft wurden. Bücher, in denen der gelegentliche Genuss von Alkohol auch nur erwähnt wurde oder nicht in drastischen Worten davor gewarnt wurde, hatten keine Aussicht auf Veröffentlichung.
Nachdem der Druck der Lobbyisten immer größer wurde, beschloss der Senat am 18. Dezember 1917 einen Zusatzartikel zur Verfassung, der Verkauf, Besitz, Transport, Produktion und Handel von Alkohol unter Strafe stellte. Das Gesetz wurde am 16. Jänner 1919 ratifiziert und trat ein Jahr später in Kraft, was am unmittelbaren Tag davor zu den eingangs erwähnten hektischen Aktivitäten der Alkoholfreunde führte. Von den achtzehn Zusatzartikeln der Verfassung beschränkten übrigens sechzehn die Aktivitäten und Rechte der Regierung, nur zwei betrafen die Rechte der Bürger: das Verbot der Sklavenhaltung und eben das Alkoholverbot.
Doch mit dem Verbot gewannen die Befürworter des Rechts auf Alkoholkonsum, die vorher gegen die Abstinenzbewegungen keine Chance hatten, langsam wieder die Oberhand.
Denn die neuen Gesetze waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Menschen, die Alkohol tranken, wollten dies auch weiterhin tun, der bloße Konsum galt nicht als Straftat. Die Polizei hatte weder die Mittel noch den Willen, die hunderttausenden Orte, an denen möglicherweise Alkohol produziert oder ausgeschenkt werden könnte, zu überprüfen, denn schließlich gab es auch weiterhin Morde und andere Gewaltverbrechen aufzuklären, denen die Polizei größere Bedeutung zumaß.
Viele der Polizisten, vor allem an der Ostküste, waren zudem irischer Abstammung und wollten sich ihren gewohnten Whiskey auch nicht gerne verbieten lassen. Der meist in der Nacht illegal hergestellte Alkohol wurde im Volksmund als Moonshine bezeichnet.
Illegale Genüsse
Orte, an denen man Alkohol konsumieren konnte, gab es viele: In den sogenannten Speakeasies wurde weiterhin Alkohol in jeder Form verkauft, man sollte aber leise sprechen, damit es nicht auffiel, dass im Hinterzimmer nicht nur Fruchtsäfte ausgeschenkt wurden. Allein in New York City stieg die Zahl dieser Kneipen in den zwanziger Jahren auf 27.000! Produziert und verteilt wurde der Alkohol von kriminellen Organisationen wie der Mafia. Da illegale Produkte meist deutlich teurer sind als legale, konnten man mit der Produktion und dem Vertrieb von Alkohol eine Menge Geld verdienen, ohne Steuern zahlen zu müssen. Obwohl der Gesamtkonsum an Alkohol deutlich zurückging, stiegen die Erlöse stark an.
Auch die Kriminalitätsrate ist nicht wie erhofft gesunken, sondern gestiegen, unter anderem auch wegen der extremen Schmuggelaktivitäten aus Kuba und Mexiko. Der hinlänglich bekannte Al Capone machte seine Millionen unter anderem auch mit der Produktion von Alkohol. In Chicago kontrollierte er zehntausend Speakeasies.
Kriegsheimkehrer, die in Europa legal Alkohol konsumiert hatten, die American Hotel Organisation und andere Organisationen opponierten gegen die Verbote. Den letzten Anstoß zur Legalisierung von Alkohol gab aber das nach der Depressionszeit dringend benötigte Steuergeld.
Am 20. Februar 1933 hob der Kongress den 18. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten auf, am 23. März gestattete Präsident Franklin D. Roosevelt im Cullen-Harrison Act (benannt nach zwei Abgeordneten) die Produktion und den Verkauf von Bier und leichteren Weinen. Nach der Unterschrift unter das Gesetz sprach er die legendären Worte: "I think this would be a great time for a beer." Die Firma des 1913 verstorbenen Adolphus Busch spendierte dem Präsidenten einige Kisten Budweiser.
Heute gibt es im Süden der USA noch Counties und Gemeinden mit starken Alkoholrestriktionen, und auch sonst wird hochprozentiger Alkohol meist nur in Liquor Stores verkauft.
Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet Deutsch an der Österreichischen Schule in Shkodra (Albanien) und schreibt Kulturreportagen.