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Der kämpferische Intellektuelle

Von Jens Kastner

Reflexionen

Vor fünfzehn Jahren starb der französische Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu, dessen Denkansätze in der Gesellschaftswissenschaft Maßstäbe setzten.


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Mit dem Megaphon vor dem Gesicht steht der Soziologe inmitten von streikenden Bahnangestellten auf dem Pariser Gare de Lyon.<p>Dieses Bild von Pierre Bourdieu, 1995 entstanden, ist geradezu ikonisch geworden. Es zeigt den engagierten Intellektuellen par excellence. Dabei hatte sich Bourdieu lange Zeit gegen die allzu direkte Beteiligung von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern an sozialen Auseinandersetzungen verwehrt. Vor allem die scheinbar selbstverständliche Verbrüderung von Intellektuellen und sozial Benachteiligten schien ihm heuchlerisch, denn Intellektuelle gehören für Bourdieu immer zu den Privilegierten. Allerdings beschrieb er sie als "beherrschte Herrschende", weil sie im Vergleich zu anderen sozialen Elitegruppen, wie etwa Politikern oder Managern, über weniger Machtmittel verfügten.<p>Bourdieu war immer daran gelegen, wissenschaftliche Analyse und politische Parteinahme nicht ineinander übergehen zu lassen. Es gibt in seinem Werk dementsprechend viele Spitzen gegen seine marxistisch orientierten - und seinerzeit noch häufig Ton angebenden - Kolleginnen und Kollegen. Anti-Marxist war Bourdieu allerdings nicht. Neben den Werken der soziologischen Klassiker Émile Durkheim und Max Weber gehören die von Karl Marx zu den - teils mehr, teils weniger offensichtlichen - Grundlagen seiner empirischen wie theoretischen Arbeiten. Und es besteht auch kein grundlegender Widerspruch zwischen seinem Engagement in der Linken und seinem Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit. Soziologie muss verdeckte Herrschaftsverhältnisse enthüllen und verstehbar machen, davon war er überzeugt.<p>

Kritik der Herrschaft

<p>Bereits in seinen frühen ethnologischen Feldforschungen, die der 1930 geborene Bourdieu Ende der 1950er Jahre im noch kolonialen Algerien durchführte, ging es ihm um ein Verständnis von Herrschaftsverhältnissen. Ein Fokus, der sich in seinem Hauptwerk, "Die feinen Unterschiede" (1979, dt. 1982) ebenso unzweifelhaft findet wie in einer seiner letzten großen Studien über die Folgen neoliberaler Politik, "Das Elend der Welt" (1993, dt. 1997). Wie gesellschaftliche Dominanz sich auch ohne direkte Gewalt eta-bliert und warum die Menschen häufig so wenig dagegen auszurichten vermögen, waren für ihn zentrale Fragen.<p>Viele der von Bourdieu geprägten Begriffe sind auf das Anliegen zurückzuführen, Herrschaft sichtbar zu machen: Der "Habitus" etwa beschreibt die verkörperten und nicht-bewussten Verhaltensweisen und Haltungen und verweist darauf, dass Herrschaft fast unbemerkt "in Fleisch und Blut" übergeht. Sich im Museum körperlich unbehaglich zu fühlen, wenn man sich mit Kunst nicht auskennt, in der Kirche die Stimme zu senken, ohne dass man dazu angehalten wird - es gibt unzählige Beispiele dafür, wie Konventionen unhinterfragt umgesetzt werden.<p>Der Begriff des "Feldes" soll u.a. aufzeigen, wie Interaktionen und Karrieren sich auf der Grundlage eines gemeinsam geteilten Glaubens vollziehen (etwa an die Kunst oder an den Sport), auch wenn die Profite dieses Glaubens sehr ungleich verteilt sind. Wenige verdienen extrem viel, viele extrem wenig an Anerkennung und Geld, und dennoch machen sie mit. Es verbindet sie der Glaube daran, etwas Gutes, Richtiges und Sinnvolles zu tun. An den Sinn der Praktiken - etwa einer Kunstausstellung bzw. eines Bundesliga-Spiels - im Feld zu glauben, macht auch das Hinterfragen dieses Glaubens unwahrscheinlich.<p>Dass Götter trotzdem gestürzt werden und sich die Verhältnisse ändern, also prinzipiell dynamisch sind, ist Bourdieu zufolge "Kämpfen" geschuldet. Nicht nur politische Auseinandersetzungen sind damit gemeint, sondern allgemein das konkurrierende Aufeinandertreffen verschiedener Positionen und Positionierungen. Man versteht sie nur, wenn man untersucht, wogegen sie sich abgrenzen: Junge gegen Alte, Aufstrebende gegen Arrivierte, Avantgarden gegen Etablierte usw. Bourdieu nannte seine Methode "relational", weil sie nicht nach Wesenskernen fragt, sondern nach "Relationen".<p>

Suche nach der Genese

<p>Auch sein eigener Ansatz lässt sich am besten begreifen, wenn man ihn im Verhältnis zu jenen betrachtet, gegen die er sich abgrenzt. Auf der einen Seite der Strukturalismus und manche Strömungen des Marxismus: Dass sie von bestehenden Regeln und festen Gesetzmäßigkeiten ausgingen, wies Bourdieu als unhistorisch zurück. Ihn interessierte, wie die Regeln zustande kamen. Seinen eigenen Ansatz nannte er daher "genetischen Strukturalismus", von "Genese" oder "Genealogie", der Frage nach der Herkunft und dem Werden.<p>Auf der anderen Seite bezog Bourdieu aber auch Stellung gegen individualistische und subjektivistische Ansätze. Nur das Individuum, seine Geworfenheit oder Existenz in den Mittelpunkt der Theorie zu stellen, schien ihm ebenfalls unzureichend. Zu stark sind die Menschen von ihrem sozialen Umfeld geprägt. Das gilt selbst für jene, die sich noch am weitesten von bestehenden Normen und geltenden Konventionen befreien können, wie lange Zeit etwa die Künstlerinnen und Künstler.<p>Durch die oft uneingestandene Abhängigkeit von Publikum, Markt und Institutionen interveniere die Gesellschaft "noch im Herzen des künstlerischen Projekts". Weil er sich aber dennoch - oder gerade deshalb - für die konkreten Praktiken interessierte, bezeichnete Bourdieu seinen Ansatz auch als "Praxistheorie".<p>Kulturelle Praktiken werden in seinem Werk in besonderer Weise ernstgenommen. Eine seiner zen-tralen Thesen war ja, dass kulturelle Differenzen und soziale Ungleichheit ineinander verwoben sind. Soziale Hierarchien gründen nicht allein auf ökonomischem Reichtum. Welche Veranstaltungen man besucht, welche Hobbys und Freizeitroutinen man pflegt, welche Schuhe und welches Essen man bevorzugt, all das - der "Konsum kultureller Güter" - trägt zur Herstellung von Klassenunterschieden bei. Die sozialen Unterschiede sind zuweilen "fein", d. h. sie äußern sich im Geschmack.<p>Auch wenn einige der empirischen Befunde, die Bourdieu mit seinem Team in den 1960er und 70er Jahren erhoben hatte, mittlerweile natürlich veraltet sind, bleibt die theoretische Errungenschaft bestehen: die Vermittlungen zwischen Struktur und Praxis sowie die zwischen Differenz und Ungleichheit.<p>

Strukturelle Hürden

<p>Bourdieu, der aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte seit 1981 den Lehrstuhl für Soziologie am Pariser Collège de France inne. Dieser - statistisch gesehen unwahrscheinliche - Weg des Außenseiters an die Spitze des französischen Universitätssystems war in vielerlei Hinsicht prägend für den Soziologen. Er sensibilisierte ihn für die strukturellen Hürden, die jede Institution und jedes Feld für all diejenigen aufgestellt hat, die nicht zu den längst schon Eingeweihten gehören: Bauernsöhne an der Universität, Frauen in Vorstandsetagen, Angehörige ethnischer Minderheiten im öffentlichen Fernsehen etc. Und er legte neben dem Grundstein für dieses analytische Interesse auch jenen für seine Empfindsamkeit gegenüber Ungerechtigkeiten.<p>In "Die männliche Herrschaft" etwa beschreibt er das Geschlechterverhältnis als grundlegend für die soziale Ordnung insgesamt. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten zwischen Männern und Frauen führt Bourdieu auf grundlegende Wahrnehmungsmuster zurück. All unsere Wahrnehmungen basieren auf Zweiteilungen - hoch/tief, hell/dunkel, öffentlich/privat etc. - und diese sind geschlechtlich zugeordnet. Weil sie so grundsätzlich sind, lassen sie sich auch kaum in Frage stellen und sind besonders wirkmächtig: Bourdieu nennt diese Wirkmacht "symbolische Gewalt" - symbolisch, weil es eine gesellschaftlich fixierte Bedeutung betrifft. Diese geschlechtersensible Perspektive findet sich allerdings nicht in allen seinen Studien.<p>Auch seine Kunstsoziologie fokussiert soziale Ungleichheit. Die Reichen und Gebildeten versichern sich im Umgang mit Kunst ihres für natürlich gehaltenen "guten Geschmacks" - und grenzen sich damit von allen anderen ab. Ästhetische Erfahrung ist so gesehen kein allgemein menschliches Vermögen, sondern zu allererst eine Herrschaftsideologie.<p>

Ambivalenz der Kunst

<p>Bourdieu hatte sich - neben dem Bildungssystem - auch dem künstlerischen Feld systematisch gewidmet. Im Jahr 1992 erschien sein diesbezügliches Hauptwerk, "Die Regeln der Kunst" (dt. 1999), im Nachlass sind seine Vorlesungen zu Werk und Bedeutung des Malers Édouard Manet aus den Jahren 1998 bis 2000 erschienen. Hier zeigt Bourdieu ein sehr emphatisches Verständnis des Kulturbereichs. In Kultur im engeren Sinne (Kunst, Theater, Musik etc.) sah er auch "Instrumente der Freiheit", die er verteidigt wissen wollte gegen die "Eingriffe neuen Typs": Die Ökonomisierung, die auch die Kunst zum Gegenstand finanzieller Maßstäbe macht, veranlasste ihn zu dieser Stellungnahme. Mit der Kritik an Elitedasein und Exklusion lässt sie sich allerdings schwer vereinbaren.<p>Ähnlich ambivalent blieb seine Bezugnahme auf den Staat. In den erst 2014 auf Deutsch erschienenen Vorlesungen "Über den Staat" aus den frühen 1990er Jahren rekonstruiert Bourdieu die Entstehung des modernen Nationalstaates. Er kritisiert ihn als "Meta-Feld", in dem die Legitimierung aller hierarchischen Verhältnisse betrieben und abgesichert wird. In seinem Kampf gegen die "neoliberale Offensive" - u.a. als Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac - setzte er jedoch stark auf staatliche Regulierung. Der Staat schien ihm auch ein Instrument, um soziale Errungenschaften zu verteidigen.<p>Die Folgen der neoliberalen Politiken - "Prekarität ist überall" (Bourdieu) - ließen Bourdieu wieder stärker Partei ergreifen. In den Begriffen seiner Theorie betrieb er damit eine "Zweckentfremdung akkumulierten Kulturkapitals": Das, was man sich im Laufe der Zeit an Wissen und Prestige angeeignet hat, wird dabei nicht zur Verbesserung der eigenen Position eingesetzt, sondern für andere, sozial schwächere. Bourdieu hat das gelebt. Am 23. Jänner 2002 ist dieser einflussreiche Soziologe überraschend gestorben.

Jens Kastner, geboren 1970, Soziologe und Kunsthistoriker, lebt als freier Autor und Dozent in Wien.