Sexuelle Gewalt in Kriegsgebieten ist ein Indikator für das Auseinanderfallen einer Gesellschaft.
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Graz. "Der gesellschaftliche Umgang mit Frauen gleicht dem sprichwörtlichen Kanarienvogel in der Kohlemine: Es ist ein Frühwarnsystem für beginnenden Katastrophe", erklärt Letitia Anderson, Expertin bei der UNO für den Kampf gegen sexuelle Gewalt. Fällt der Vogel in der Mine tot um, gibt es bald keinen Sauerstoff mehr. Und Übergriffe auf Frauen sind Vorboten, dass bald alle Hemmschwellen wegfallen. "Das war bei Boko Haram in Nigeria so, beim Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak sowie bei Al Shabaab in Somalia", erinnert Anderson an den Beginn der Eskalation in diesen Krisengebieten. "Diese Gruppen haben ganz bewusst sexuelle Gewalt und Kidnappings verwendet, um unerwünschte Personen zu vertreiben, Familien zu zerstören und um generell Angst zu verbreiten."
Zur Machtdemonstration und der "Belohnung" für Kämpfer kommt noch ein ökonomischer Aspekt hinzu. Laut Anderson habe der IS 2015 zwischen 30 und 40 Millionen US-Dollar allein durch die Erpressung von Lösegeldern für gekidnappte jesidische Frauen und Mädchen eingenommen, erklärt Anderson. Die Amerikanerin war Gast bei der Grazer Konferenz Women for Peace, die sich vergangene Woche mit dem Thema der sexuellen Gewalt in Krisenregionen auseinandergesetzt hat.
Lange wurde sexuelle Gewalt als unvermeidbares Nebenprodukt in Kriegsgebieten betrachtet, die von Einzeltätern begangen wird. Inzwischen herrscht Konsens darüber, dass sexuelle Gewalt systematisch als Waffe im Krieg eingesetzt wird. Im Jahr 2008 hat der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1820 verabschiedet, die sexuelle Gewalt als "Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als wesentlichen Schritt bei einem Genozid" verurteilt.
Theoretisch bedeutet das, dass Staaten, die sexuelle Gewalt in Konfliktzonen erlauben, mit Sanktionen belegt werden können. Doch diese UN-Resolution ist bisher nicht implementiert worden, kritisiert die US-amerikanische Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams. "Sexuelle Gewalt zieht fast immer komplette Straflosigkeit nach sich", erklärt Williams. Die Aktivistin ist während ihrer humanitären Arbeit im Bürgerkrieg in El Salvador in den 1980er Jahren selbst Opfer einer Vergewaltigung durch ein Mitglied des Todesschwadrons geworden. "Die haben versucht, mich aus dem Land herauszubekommen."
Die UN-Resolution 1820, auch wenn sie zur Zeit ihrer Verabschiedung 2008 gefeiert worden ist und noch immer als Meilenstein gilt, biete laut Williams gar keine Antwort auf das relativ neue Problem der vielen nicht-staatlichen Vereinigungen und Terrororganisationen. "Wer soll hier mit Sanktionen belegt werden?", fragt Williams.
Über hundert Gruppen patrouillieren durch Syrien
Laut dem jüngsten Report der Vereinten Nationen über sexuelle Gewalt existieren derzeit weltweit mindestens 48 Gruppierungen - Regierungen sowie Gruppen staatlicher und nicht-staatlicher Natur, die systematisch Vergewaltigungen als Mittel zur Machtdemonstration verwenden.
Zerlegt man diese Dachorganisationen in ihre kleinen Teile, bekommt man ansatzweise ein Bild davon, welchen Horror patrouillierende Soldaten und Milizen in einem Krisengebiet verbreiten können. "Es marschieren 108 verschiedene bewaffnete Gruppen durch Syrien", erinnert die liberianische Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee. "Im Südsudan sind es 120 bewaffnete Gruppen. Jetzt schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, was mit den Frauen und Mädchen dort passiert." Auch die Flucht bietet keinen Schutz: Laut den Vereinten Nationen werden 80 Prozent der alleine flüchtenden Frauen mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt, und selbst in den Lagern, die Schutz bieten sollten, sind sie vor Übergriffen nicht sicher.
Gbowee erinnert daran, dass die Behandlung von Frauen in Krisenzeiten auch direkt mit der Behandlung von Frauen in Friedenszeiten zusammenhängt. Sieht die Gesellschaft die Frauen als bloßes Objekt, fällt es umso leichter, sie ihrer Würde in Zeiten des Kriegs zu berauben.
"In Syrien hat es sexuelle Gewalt schon vor der Krise gegeben", erklärt der syrische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Ibrahim Al Kasem. "Seit dem Krieg haben diese Fälle extrem zugenommen. Sie werden nun von bewaffneten Männern begangen." Zudem gebe es in dem zerfallenden Staat kein Gerichtssystem mehr, mit dem diese Fälle verfolgt werden können. Damit fallen alle Schranken: "Sexuelle Gewalt wird jetzt in Syrien als Waffe verwendet, seitens aller religiöser Gruppen und seitens aller Ethnien." Al Kasems Menschenrechtsorganisation habe tausende Frauen beraten, die alle, von der Universitätsprofessorin bis hin zu jungen Mädchen, Opfer sexueller Gewalt in Syrien geworden waren. Dennoch glaubt Al Kasem, dass in Syrien sogar mehr Männer als Frauen sexuell missbraucht werden. Die Dunkelziffer ist hier hoch, denn Vergewaltigungen an Männern ist ein absolutes Tabu, über das nicht gesprochen wird.
Aber das allergrößte Problem sei, "dass die sexuelle Gewalt in Syrien auch von der Regierung und der staatlichen Armee ausgeht", erzählt der Jurist, der aus vor dem Krieg geflohen ist, nachdem immer mehr Kolleginnen und Kollegen von seiner Organisation verschwunden sind. "Die Übergriffe gehen von jenen aus, die uns eigentlich schützen sollten."
Von 500 verschleppten Frauen konnten nur elf fliehen
"All diese religiösen Männer, seien sie von der Al-Kaida oder von Daesh (IS), verwenden gezielt sexuelle Gewalt", bestätigt auch der irakische Mediziner Ali Akram Zainalabdeen, Gründer der NGO "Turkmen Rescue Foundation". Einerseits werde das Versprechen auf Sex dazu verwendet, um Kämpfer anzuziehen. Andererseits werde sexuelle Gewalt dazu genutzt, um Gemeinden schlicht zu zerstören, ihre Präsenz in bestimmten Regionen komplett auszulöschen: "Nehmen Sie etwa die strategisch wichtige Stadt Mossul, wo genau das passierte", erzählt Zainalabdeen. 2013 habe das Europäische Parlament die irakische Regierung aufgefordert, ihre Bevölkerung zu schützen. Aber der IS würde gezielt isolierte Minderheiten - wie etwa die Jesiden oder die Turkmenen - in abgeschiedenen bergigen Gegenden attackieren. 2014 hat der IS die nordirakische Stadt Beshir eingenommen, die als Zentrum der turkmenischen Bevölkerung galt. 2000 Familien sind geflohen. 500 Frauen und Mädchen sind vom IS verschleppt worden. "Von jenen 500 ist nur elf Frauen die Flucht gelungen. Und nur fünf davon sind von ihren Familien wieder akzeptiert und empfangen worden", berichtet Zainalabdeen.
Versuch, Frauen vom öffentlichen Leben abzuhalten
Brenda Muturi von der Pan-Afrikanischen Organisation für Geschlechter-Gerechtigkeit, hat anlässlich einer Studie besonders Ägypten und den Südsudan unter die Lupe genommen. In dem einen Land ist die Krise formal vorbei, in dem anderen flammt der Bürgerkrieg gerade wieder auf. Übergriffe auf Frauen sind weiter an der Tagesordnung: "Im Südsudan sind in einem einzigen Spital innerhalb von nur sechs Monaten 2490 Fälle von sexueller Gewalt angezeigt worden." Die Täter stammen aus den Reihen des Militärs genauso wie von den zahlreichen Milizen." Die empfohlene medizinische Behandlung nach einer Vergewaltigung kostet im Südsudan 19 Dollar. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei 20 Dollar.
Auch in Ägypten haben seit der Revolution die Fälle sexueller Gewalt zugenommen, die durch die praktisch existierende Straflosigkeit begünstigt wird. "Nur bei 12 Prozent der Übergriffe wurde dem Opfer von umstehenden Passanten geholfen. 93,4 Prozent der Frauen in Ägypten sagen, sie würden einen sexuellen Übergriff nicht bei den Behörden anzeigen, da die Täter ohnedies nicht bestraft werden."
Anlässlich der Natur der vielen Übergriffe lasse das nur einen Schluss zu, meint Muturi: "Sexuelle Gewalt wird in Ägypten bewusst eingesetzt, um Frauen aus staatlichen Ämtern zu vertreiben, um Journalistinnen einzuschüchtern und um eine aktive Teilnahme von Frauen an der Politik zu verhindern."