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Der Kanzler arbeitet an der Zukunft

Von Ulrich H.J. Körtner

Gastkommentare

Das erklärt manches in der gegenwärtigen Politik.


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Auf dem Weg zum Einkaufen fiel mein Blick kürzlich auf ein Plakat. Ein Meisterwerk der PR-Kunst, das mich zum näheren Betrachten einlud. Es zeigt Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer, wie er sich stehend über einen Konferenztisch beugt und ein Dokument studiert - vielleicht eine Tischvorlage vor Sitzungsbeginn - ohne Sakko, aber mit Krawatte und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Dazu die Bildunterschrift: "Der Kanzler arbeitet an der Zukunft." Zusatz: "Die Opposition streitet."

Der Kanzler arbeitet also an der Zukunft: Das erklärt manches in der gegenwärtigen Politik. Wenn er sich doch mehr mit der Gegenwart beschäftigen würde! Mit der wirksamen Bekämpfung der Inflation, die über dem europäischen Durchschnitt liegt. Mit Lösungen für bezahlbaren Wohnraum, mit der Bekämpfung der steigenden Armut im Lande, die mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft einwandert. Mit einem Wort: mit der neuen Gerechtigkeitsfrage, die sich durch die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg und seine wirtschaftlichen Folgen, aber auch durch die Folgen des Klimawandels und die ungleiche Verteilung der Lasten beim Klimaschutz und bei den Energiekosten verschärft.

Stattdessen fokussiert sich der Bundeskanzler weiter auf das Thema Migration, um von den Unzulänglichkeiten der eigenen Politik abzulenken. Mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat er eine "Asyl-Allianz" vereinbart. Wir brauchen hingegen eine neue Gerechtigkeitsallianz! Wenn sich Menschen in unserem Land weder das Heizen noch alle zwei Tage eine Hauptmahlzeit leisten können, ist das für die Regierung - also auch für die Grünen - ein Offenbarungseid.

Qualitätsjournalismus in Gefahr

An welcher Zukunft arbeitet, wer so die Augen vor der Gegenwart verschließt? Geht es um die Zukunft des Landes, um die Zukunft seiner Partei oder um seine eigene Zukunft? Was auf dem Blatt zu lesen steht, in dessen Lektüre sich der Kanzler auf dem Plakat vertieft, ist nicht zu erkennen. Vielleicht handelt es sich ja um die Themenliste, die ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker bei der Präsentation der Werbekampagne vorgestellt hat. Sie reicht vom Klimaschutz, gepaart mit Technologieoffenheit (Stichwort: E-Fuel), über die Digitalisierung, die Schaffung von Eigentum, die Sicherung der medizinischen Grundversorgung und ein Europa mit sicheren Grenzen bis zum altbekannten Slogan, Leistung müsse sich auch in Zukunft lohnen.

Kein Thema sind die dramatischen Veränderungen in der Medienlandschaft, durch die der Qualitätsjournalismus als vierte Kraft einer funktionierenden Demokratie ernsthaft in Gefahr gerät. Mit dem Todesstoß für die "Wiener Zeitung" und dem neuen ORF-Gesetz, das die Printmedien weiter benachteiligt, leistet die Bundesregierung selbst ihren tatkräftigen Beitrag zur Schwächung der vierten Gewalt. Mit welcher Verachtung die Mediensprecherin des grünen Koalitionspartners das Ende der "Wiener Zeitung" quittierte, ist ein Kapitel für sich. Dank an die Grünen, das auch sie so tatkräftig Hand in Hand mit dem Bundeskanzler an der Zukunft der österreichischen Medienlandschaft arbeiten!

Was offenbar auch nicht auf der Agenda des Kanzlers steht, ist eine wirksame Strategie gegen die drohende Orbanisierung Österreichs, die sich Herbert Kickl und seine FPÖ zum Ziel gesetzt haben. Sage niemand, dass sie ihre Ziele nicht offen kommunizieren würden. Man schaue sich nur Kickls Rede zum 1. Mai in Linz auf YouTube an. Ungarns Premier Viktor Orban steht für eine "illiberale Demokratie", was schon ein Widerspruch in sich ist.

Eine antieuropäische Haltung

Unter anderem plädiert die FPÖ für eine Änderung der Verfassung. Bisher lautet Artikel 1: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Ginge es nach dem Willen der FPÖ, sollte daraus werden: "Österreich ist eine demokratische, wehrhafte, immerwährend neutrale souveräne Republik. Ihr Recht geht vom österreichischen Bundesvolk aus." Abgesehen vom Ansinnen, Österreichs Neutralität, die schon jetzt durch die Beistandspflicht innerhalb der EU relativiert ist, in den Verfassungsrang zu heben, wäre der zweite Satz ein Hebel, um die Geltung der europäischen Gerichtsbarkeit in Österreich zu unterminieren. Aus beiden Forderungen spricht eine antieuropäische Haltung.

Müsste die Arbeit an der Zukunft Österreichs nicht bedeuten, sich der FPÖ entgegenzustellen, statt auch im Bund die Weichen für eine Neuauflage von Türkis/Schwarz-Blau zu stellen? Die Regierungsbildungen in Niederösterreich und Salzburg verheißen da nichts Gutes. Allen Beteuerungen vor den Landtagswahlen zum Trotz hat sich die Landeshauptfrau von Niederösterreich den Freiheitlichen regelrecht unterworfen. Auch der Salzburger Landeshauptmann empfing sie buchstäblich mit offenen Armen.

"Die Opposition streitet" - die SPÖ zerlegt sich selbst, mit der Folge, dass möglicherweise die Kommunisten oder eine neue linke Partei in den Nationalrat einzieht. Die Neos schwächeln, und die Grünen haben gute Chancen, sich nach der nächsten Nationalratswahl in der Opposition wiederzufinden. Die FPÖ zeigt hingegen eine Geschlossenheit, die das demokratische Österreich das Fürchten lehren sollte. Wer vor der Gefahr der Orbanisierung die Augen verschließt, arbeitet daran, dass die Zukunft unseres Landes verspielt wird.