Hat Helmut Kohl seinerzeit den Euro ganz bewusst mit jenen Designfehlern starten lassen, die heute eine politische Union Europas erzwingen könnten?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Je klarer den Deutschen wird, dass jede denkbare Lösung oder auch Nichtlösung der Euro-Krise sie viel Geld kosten wird, umso lebhafter wird eine naheliegende Frage diskutiert: Wer ist für dieses Schlamassel eigentlich verantwortlich?
Dass es klüger gewesen wäre, den Euro nicht so in die Welt zu setzen, wie es schließlich geschah, ist heute weitgehend unumstritten - aber wer hat damals eigentlich die politische Verantwortung dafür getragen?
Ausgerechnet die deutschen Christdemokraten beantworten diese Frage mit einem intellektuellen Denkmalsturm - und bezichtigen den Kanzler der Deutschen Einheit, Helmut Kohl, nun der Mitschuld am Euro-Debakel. "Schon während der Verhandlungen zum Stabilitätspakt war deutlich geworden, dass die meisten Länder eine strikte Sparpolitik und Haushaltsdisziplin als Einmischung in ihre politische Souveränität ablehnten," behauptet Kurt Biedenkopf (CDU) im Magazin "Focus", "Kohl konnte nicht ernsthaft darauf hoffen, dass die Stabilitätskriterien eingehalten würden." Auch der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz, Autor einer Kohl-Biografie, weist dem Altkanzler "maßgebliche Mitverantwortung" für die Euro-Troubles zu. Kohl sei überzeugt gewesen, eine gemeinsame Währung würde Europas Einigung zementieren. Dem habe er alles andere untergeordnet.
Dass Kohl, vor allem wenn er den Mantel der Geschichte rauschen hörte, ökonomische Argumente nicht sonderlich ernst nahm, ist recht gut belegbar. Auch die durch und durch berechtigten Einwände der Bundesbank gegen die Modalitäten der D-Mark-Einführung in der DDR wischte er aus politischem Kalkül glatt vom Tisch. Die Vermutung liegt nahe, dass Kohl zugunsten seiner Vision vom irreversibel vereinigten Europa (und seiner eigenen historischen Rolle) ganz bewusst die Risiken der Einheitswährung in Kauf nahm. "Er kannte die vielen berechtigten Einwände gegen die Einführung des Euro," so Dieter Spethmann, damals als Chef des Thyssen-Konzerns einer der wichtigsten deutschen Bosse.
Denkbar - wenn auch nicht im geringsten belegbar - ist sogar, dass Kohl mithilfe dieser Risiken die bei der Bevölkerung nicht sehr beliebten "Vereinigten Staaten von Europa" gleichsam erzwingen wollte. Wissend, dass der Euro die Europäer eines Tages vor die Frage "Zerbrechen der EU oder Vereinigte Staaten von Europa" stellen würde, könnte er den Euro als Brandbeschleuniger in einem Prozess gesehen haben, der mit normalen demokratischen Prozeduren erst in ferner Zukunft absehbar war, wenn überhaupt. Angela Merkels Argument von der "Alternativenlosigkeit" der politischen Union wäre dann gleichsam die Ernte jener von Kohl vielleicht ausgesäten List der Geschichte.
Immerhin prophezeite er bereits am 6. November 1991 vor dem Bundestag: "Die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne eine politische Union auf Dauer erhalten, ist abwegig." Wenn er sich letztlich aber genau darauf einließ, war er ein Art historischer Zocker, der alles auf eine Karte setzte. Erzwingt der Euro tatsächlich die politische Union Europas, dann hätte Kohl grandios gewonnen.
ortner@wienerzeitung.at