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Der Kanzler hadert mit seinem Volk

Von Walter Hämmerle

Politik

Normalerweise gilt es ja als Privileg der Regierten, sich über "die da oben" aufzuregen - nun hat Deutschlands SPD-Kanzler Gerhard Schröder den Spieß umgedreht: Angesichts der umfassenden Ablehnung, die ihm, seiner Partei und seinen Reformen entgegenschlägt, beschwert er sich nun über "sein" Volk. Diesem fehle es in West wie Ost gleichermaßen schlicht an der notwendigen Veränderungsbereitschaft.


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Die Veränderungsbereitschaft sei zwar unendlich groß, wenn sie abstrakt abgefragt werde. Sie sinke aber mit der persönlichen Betroffenheit. Und: "Das geht quer durch die Gesellschaft." So sprach Schröder am Montag.

In einem Interview wandte er sich dieser Tage zudem gegen die Nehmer-Mentalität in deutschen Landen: "In Ost wie West gibt es eine Mentalität bis weit in die Mittelschicht hinein, dass man staatliche Leistungen mitnimmt, wo man sie kriegen kann, auch wenn es eigentlich ein ausreichendes Arbeitseinkommen in der Familie gibt." Diese Haltung könne "sich auf Dauer kein Sozialstaat leisten, ohne daran zu Grunde zu gehen".

Hintergrund der Äußerungen des Bundeskanzlers sind die massiven Widerstände in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung gegen die Sozialstaatsreformen seiner Regierung. Seit ihrer Wiederwahl 2002 musste die SPD bei sämtlichen Wahlgängen zum Teil vernichtende Niederlagen hinnehmen. Bei den jüngsten Wahlen in den beiden ostdeutschen Bundesländern Sachsen und Brandenburg vom vergangenen Sonntag profitierte zudem erstmals nicht die Opposition von CDU und FDP, sondern die Ränder zur rechten wie zur linken des Spektrums. Vor allem das Abschneiden der rechtsextremen Parteien DVU und NPD hat dabei für europaweites Aufsehen gesorgt.

Die Wortmeldungen Schröders über die angeblichen Mentalitätsdefizite seiner Landsleute konnten natürlich nicht ohne Kommentare bleiben. Unterstützung erhielt der Bundeskanzler vom Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun. CDU-Chefin Angela Merkel und FDP-Obmann Guido Westherwelle empfahlen Schröder dagegen, sich auf eine bessere Regierungsarbeit zu konzentrieren statt die Bevölkerung zu beschimpfen.

Nichtsdestotrotz zeigte sich Schröder gestern in Berlin einmal mehr entschlossen, an den Reformen unter dem Titel "Agenda 2010" festhalten zu wollen. Allerdings gestand er auch ein, dass künftig eine "gewissenhaftere Umsetzung" notwendig sei. In diesem Zusammenhang schloss der Bundeskanzler weitere Korrekturen am Maßnahmenpaket Hartz IV nicht aus.

Kritik an der gesamten gegenwärtigen Politikergeneration kam unterdessen von Alt-Kanzler Helmut Schmid (SPD). Via "Bild"-Zeitung ließ er seine gesammelte Nachfolgerschaft wissen, dass sie einfach "nicht tapfer genug sei, ihrem Volk die Wahrheit über die zu erwartenden Schwierigkeiten" zu sagen. Dieses Urteil habe jedoch genau so für Frankreich und England Geltung.