Das Gebot des Kalten Krieges, mit der Androhung des Ultimativen höchst sparsam umzugehen, ist im Zuge des Ukraine-Krieges bereits verletzt worden.
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Es gab Zeiten, da galt "Kalter Krieger" als Schimpfwort für einen, der ständig die Faust zeigt, ohne sie je zu gebrauchen. Dass die Sowjets 1956 die ungarische Revolution mit ihren Panzern niederwalzten und 1968 den Prager Frühling, zählte im Vergleich zur Tatenlosigkeit des Westens in unserem Urteil wenig. Dass wir nur dank dieser Zurückhaltung an einem Dritten Weltkrieg vorbeischrammten - geschenkt. Jetzt, nach 30 Jahren Friedensdividende gibt es wieder Krieg, den kalten, nur mit Bravour beherrschbaren. Und viele sehnen sich wie wir ehedem nach der eisernen Faust des Westens.
Doch der neue Kalte Krieg braucht nicht Heißsporne, sondern die Reinkarnation jener vielfach verachteten "Kalten Krieger" der Sechziger- und Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, die das mit Atombomben gespickte Parkett beherrschen. Diese Spezies mit ihrem Riecher für gute Berater, der feinen Nase bei der Beurteilung der Lage und der ruhigen Hand eines Chirurgen beim Austarieren im Gleichgewicht des Schreckens. Mag sein, dass es unter den heutigen Führern solche Naturtalente gibt, die mit der neuen alten Welt umzugehen wissen, in die uns der Ukraine-Krieg zurückgeworfen hat. Auffällig geworden sind sie noch nicht.
Da der alte, aber wirklichkeitsimminente Slogan vom "Frieden durch Angst" wieder über allem steht und wieder Angst statt Vertrauen und Zuversicht die Geopolitik gestaltet, seien alle politisch Handelnden im neuen Kalten Krieg an die Regel Nummer eins erinnert: höchst sparsamer Umgang mit der Androhung des Ultimativen. Und den vorwurfsgeschwängerten Fragen von TV-Journalisten, warum der Westen für seine Werte nicht kämpfend eingreife, ist - sachlich und frei vom Zynismus des Propagandachefs des Teufels - entgegenzuhalten: "Wollt ihr den totalen Krieg?"
Für alle jedoch gilt: In den fast fünf Jahrzehnten des gehabten Kalten Krieges wurde nur ein einziges Mal mit dem ganz großen Kaliber gedroht. Und zwar vom US-Präsidenten John F. Kennedy, der am 22. Oktober 1962 im Fernsehen in einer Rede an die Nation erklärte: "Ich rufe Generalsekretär Nikita Chruschtschow auf, die verstohlene und rücksichtslose Gefährdung des Weltfriedens zu beenden. Er hat jetzt die Chance, die Welt vom Abgrund der Zerstörung zurückzuholen." Der Generalsekretär die KP der UdSSR wusste die Worte richtig zu werten. Die Schiffe mit der brisanten Raketenfracht für Kuba, den Hinterhof der USA, drehten ab in Richtung Heimat.
Unerfahrenheit der Nato im Umgang mit der neuen Lage
Dieses Sparsamkeitsgebot ist bereits verletzt worden. Noch keine vier Wochen alt ist der neue Kalte Krieg, und schon droht der russische Präsident Wladimir Putin: "Wer auch immer versuchen sollte, uns in die Quere zu kommen, (...) muss wissen, dass die Antwort Russlands zu Folgen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nicht kennengelernt haben. Ich hoffe, dass Sie meine Worte hören." Die Reaktionen der Nato-Partner trieften vor Unerfahrenheit im Umgang mit der neuen Lage. Schon die Frage eines Beistands durch Waffenlieferungen an Kiew hat sie überfordert. "Ausschließlich Defensivwaffen", gab das Nato-Hauptquartier in Brüssel aus. Was die Deutschen freilich nicht überzeugen konnte. Mit dem lakonischen Nachsatz, man könne "auch mit Defensivwaffen angreifen", lehnte das Kabinett von Kanzler Olaf Scholz fürs Erste ab und trennte sich gerade einmal nolens volens von den belachten 5.000 Stahlhelmen.
Worüber die Polen schäumten. Der starke Mann von Warschau, Jarosław Kaczynski, Chef der Regierungspartei PiS, plapperte von einer Friedensmission für die Ukraine. Weshalb US-Präsident Joe Biden am 11. März twitterte: "Wir werden keinen Krieg gegen Russland in der Ukraine führen. Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland wäre der Dritte Weltkrieg. Und den müssen wir unbedingt verhindern wollen." Sehr beeindrucken konnte Biden Kaczynski damit nicht. Das dreifache Erz - erzkatholisch, erzkonservativ, erzrechts - pilgerte per Bahn nach Kiew, um dort Flagge zu zeigen. Ob die der Nato, darüber wird im Hauptquartier in Brüssel noch debattiert.
Putins nukleare Drohungen - wirklich nur ein Bluff?
Doch Kaczynskis Schwadronieren vor Kameras über Luftraumkontrolle über der Ukraine weckte Sekundanten. In einer Springer-Zeitung riet nun der frühere Airbus-Chef Tom Enders zu einer Flugverbotszone für russische Kampfflieger in den ukrainischen Grenzregionen und setzte nach: "Es ist an der Zeit, dass der Westen Putins nukleare Drohungen als das entlarvt, was sie wirklich sind - ein Bluff."
Von wegen:
Russland ist die größte Atommacht der Welt. Von den gut 13.000 Atomwaffen auf der Erde befinden sich 6.370 Nuklearsprengköpfe in russischen Beständen, wie das "Nuclear Notebook" des Bulletin of Atomic Scientists meldet.
Laut Nato-Erkenntnissen sind rund 900 der russischen Atomsprengköpfe rund um die Uhr einsatzfähig.
In Europa sind ungefähr 150 US-Kernwaffen stationiert, 20 davon in der deutschen Eifel.
Die nächstgelegene russische Raketenabschussanlage befindet sich in Kaliningrad/Königsberg. Die Flugzeit einer dort abgeschossenen Mittelstreckenrakete in die Metropolen Mitteleuropas beträgt zwischen vier und sechs Minuten.
Die europäischen Hauptstädte Bukarest, Budapest, Warschau, Bratislava, Prag und Mailand sind derzeit ohne Raketenabwehr. Als eine solche betreibt die Nato eine spezielle Radaranlage in Rumänien und eine Shooter-Einrichtung in Polen, deren Systeme bei einem Raketenhagel hoffnungslos überfordert wären.
Zudem erwies sich die Trefferquote der Abwehrraketen der Partner im Bündnis mit 40 bis 70 Prozent als reichlich bescheiden.
Gemäß der Philosophie des Gleichgewichts des Schreckens müsste der Erstschlag noch vor Erreichen seiner Ziele den Gegenschlag auslösen. Das braucht einen Abschussautomatismus. Einen solchen gibt es für Nato-Europa nicht.
Der Westen steht also bei der Wehrhaftigkeit Europas nach 30 Jahren Friedensdividende vor einem ziemlichen Scherbenhaufen. Die Sicherheitsexpertin Jana Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, bringt es auf den Punkt: "Im Gegensatz zu Israel besitzen Europas Hauptstädte, etwa Berlin, keinen Iron Dome. Was das Abfangen von Raketen betrifft, ist Europa nackt."
Wie zittrig die Männer an den Bildschirmen sein können, zeigen Vorfälle von atomaren Beinahe-Katastrophen. Britische Quellen listen 87 solcher Fälle auf und vermerken als deren Ursache: Alkohol, Drogen, Müdigkeit, Kommunikationsfehler oder Datenfehlinterpretationen, aber auch Missgeschicke und bloße Schlamperei.
Dazu kommen die Gefahren, die von 18 Atombomben ausgehen, die bei Abstürzen und Marineunfällen "lost" - also verloren - gingen. Sie ticken auf dem Meeresgrund, 11 davon in Küstennähe zu Marokko, Portugal und Spanien.
Doch schon Geringfügigkeiten, auf die man kaum kommt, können Kurzschlussreaktionen auslösen. So geschehen 1960 durch das Missverständnis eines Computers, der den aufgehenden Mond für anfliegende Sowjet-Raketen hielt. Letztlich bewahrte die Tatsache, dass sich just zu dem Zeitpunkt der Staatschef der UdSSR, Nikita Chruschtschow, bei der UNO in New York aufhielt, die Menschheit vor einem Dritten Weltkrieg aufgrund einer Verwechslung. Rauchende Köpfe im Pentagon sagten sich, die Russen würden doch nicht Raketen auf die USA abschießen, wenn sich ihr Chef im Zielgebiet aufhielt. Oder vielleicht gerade deshalb?
Doch auch fehlerfreie Abläufe können beinahe die finale Katastrophe auslösen. So geschehen am 5. November 1956. Die Amerikaner sind alarmiert:
Nicht identifizierte Flugzeuge dringen im Formationsflug in den türkischen Luftraum ein.
100 sowjetische MiG kreisen über Syrien.
Ein britischer Canberra-Bomber wird über Syrien abgeschossen.
Kontingente der russischen Flotte durchqueren die Dardanellen.
Alles zeitgleich, kurz vor 12 Uhr Nahost-Zeit. General Andrew Jackson Goodpaster, Supreme Allied Commander der Nato in Europe, bereitet alles für einen Nato-Gegenschlag vor. Da ergibt die Analyse, glücklicherweise rechtzeitig:
Die Düsenjäger über der Türkei sind eine Schwanenschar, die vom Radar erfasst und falsch interpretiert wurde.
Die 100 sowjetischen MiGs waren eine deutlich kleinere routinemäßige Begleitung für den syrischen Präsidenten, der von einem Staatsbesuch aus Moskau zurückkam.
Der britische Canberra-Bomber stürzte wegen technischer Fehler ab.
Die russische Flotte befand sich auf dem Weg ins Mittelmeer zu einem lange geplanten Manöver.
Die einzelnen Ereignisse waren, isoliert betrachtet, relativ harmlos. Doch ihr ungewöhnliches Zusammentreffen bedrohte damals als vermeintlicher Ernstfall die Menschheit.