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Der Kern der Republik

Von Walter Hämmerle

Politik
© Stanislav Jenis

Gerhart Holzinger, abtretender Präsident des Verfassungsgerichtshofs, über Wahlen, Flüchtlingskrise und die Republik Europa.


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Wien. Am 15. Oktober entscheiden die Bürger nicht nur über den neuen Nationalrat, die nächste Koalition wird auch die Weichen für den Verfassungsgerichtshof neu stellen. Dessen Präsident, Gerhart Holzinger, scheidet mit Jahresende aus Altersgründen aus, zwei weitere Richterposten stehen ebenfalls zur Nachbesetzung an. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem obersten Richter der Republik darüber, was die Republik zusammenhält und was sie bewegt.

"Wiener Zeitung": Herr Präsident, was ist der verfassungsrechtliche Kern der Republik?Gerhart Holzinger: Der demokratische Rechtsstaat, wie er in Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes festgehalten ist: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Alles, was der Staat darf und macht, ist rechtlich zu regeln; und diese Regelungen müssen vom Volk ausgehen.

Mit Blick auf Wahlen wird viel darüber spekuliert, welche grundsätzlichen Änderungen eine neue Regierung mit einfacher Mehrheit vornehmen kann, etwa bei der direkten Demokratie, im Verhältnis Bund-Länder, im Kammernstaat?

Für substanzielle Änderungen ist der Spielraum begrenzt. Das gilt vor allem für das Verhältnis von Bund und Ländern, hier stehen alle maßgeblichen Bestimmungen in Verfassungsrang. Was die direkte Demokratie angeht, so muss man wissen, dass die Republik Österreich 1920 als radikal parlamentarische Demokratie gegründet wurde. 1929 wurde dieses Prinzip durch die Stärkung des Bundespräsidenten etwas abgeschwächt. Und die Wahlrechtsreform von 1992 hat das Wahlrecht für den Nationalrat verfassungsrechtlich sehr detailliert festgeschrieben. Eine Stärkung der direkten Demokratie würde wohl eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Das Gleiche gilt für jede Regelung, die bei einem Volksbegehren ab einer gewissen Zustimmungsgrenze zu einer zwingenden Volksabstimmung führt. Irgendwann stellt sich außerdem die Frage einer Gesamtänderung der Verfassung, die einer Volksabstimmung bedürfte.

Und eine Volksbefragung als zwingende Folge eines Volksbegehrens?

Aus formalen Gründen wäre auch hier eine Verfassungsänderung nötig, die politisch aber kein Problem sein dürfte, weil der Nationalrat ja nicht gebunden wäre.

Krisen, neue Technologien und Migration verunsichern viele Menschen. Die Politik reagiert mit Regeln für das Zusammenleben, die zu Lasten von Minderheiten gehen, etwa das Burka-Verbot. Was bedeutet das für das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat?

Der Verfassungsgerichtshof hat dazu bereits eine Reihe von Urteilen gesprochen, etwa dass das Schächten von Tieren keinen Verstoß gegen das Verwaltungsrecht darstellt und dass Kreuze in Kindergärten zulässig sind, wenn eine Mehrheit der Kinder christlichen Glaubens ist. Denn das Kreuz ist über seine religiöse Bedeutung hinaus als Symbol der europäischen Geistesgeschichte anzusehen. Mit dem Verschleierungsverbot haben wir uns noch nicht beschäftigt, aber es gibt hier ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der in einem französischen Fall ein Verbot des Kopftuchs für zulässig erklärt hat. Die Frage ist stets, ob eine Regelung mit dem Grundrechtekatalog vereinbar ist. Aber solche Fragen sind für mich in erster Linie ein politisches Problem. Die gesellschaftlichen Spannungen entzünden sich auch nicht an rechtlichen Entscheidungen, sondern an Wahlergebnissen. Die Ursache sehe ich im Umstand, dass zu lange bestehende Rechtsvorschriften nicht konsequent angewendet wurden.

Worauf spielen Sie hier an?

Um es deutlich zu sagen: Das Asylrecht für Menschen zu garantieren, die in ihrer Heimat verfolgt werden, ist kein Problem. Denn die Zahl der Flüchtlinge nach der Genfer Konvention, die hierher kommt, ohne vorher in einem sicheren Drittstaat gewesen zu sein, ist für uns erträglich. Österreich hat seit den 1990ern fast stakkatoartig Fremdengesetze erlassen, diese aber nicht konsequent umgesetzt. Hier hat eine vom Staat nicht ausreichend kontrollierte Zuwanderung stattgefunden. Mit der Flüchtlingsbewegung 2015 erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt.

Worauf zielt Ihre Kritik ab?

Zum einen hat man die Hinweise und Hilfsappelle, die es im Vorfeld dieser Massenmigration ja gegeben hat, ignoriert. Zum anderen wurden zwar die Binnengrenzen im Schengenraum aufgehoben, aber kein adäquater Außengrenzschutz umgesetzt. Als dann die Flüchtlinge kamen, haben das viele als Schock erlebt. Zu Recht. Wenn ein Staat mit neun Millionen Einwohnern zu 900.000 Menschen an seinen Grenzen, die nach Deutschland wollen, nur sagen kann: "Bitte steigt in die Busse, die wir bereitstellen", dann muss das für jeden denkenden Menschen ein Schockerlebnis sein. Wir können uns glücklich schätzen, dass alles vergleichsweise reibungslos abgelaufen ist. Stellen Sie sich nur vor, was etwa passiert wäre, wenn 33 Millionen Menschen an der mexikanischen US-Grenze stehen und nach Kanada wollen?

Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesen Ereignissen?

So etwas darf nicht noch einmal passieren, das ist auch eine Frage des Rechtsstaats. Rechtsvorschriften müssen eingehalten werden und bei Verstößen muss es Sanktionen geben.

Es gibt die Vision einer "Republik Europa". Mit Grünen und Neos treten auch zwei Parteien im Wahlkampf für diese Idee ein. Was bedeutet das verfassungsrechtlich?

Also als Bürger habe ich den Eindruck, die EU hat genug zu tun, ihr geltendes Programm mit Leben zu erfüllen. Österreich ist 1994 nach einer Volksabstimmung, bei der zwei Drittel der Bürger mit Ja gestimmt haben, nicht nur der Union beigetreten, wie sie damals gestaltet war. Wir haben uns auch zur dynamischen Entwicklung bekannt, die in der Idee einer sich immer enger zusammenschließenden EU angelegt ist. Sollte sich die EU aber wirklich zu einem Bundesstaat entwickeln, in dem Österreich nur noch die Rolle eines Bundeslands hätte, wäre wohl eine erneute Legitimation durch das Volk notwendig. Aber derzeit ist die EU ja nicht einmal in der Lage, ihr Programm für die Aufteilung einer vergleichsweise geringen Zahl von Flüchtlingen umzusetzen.

Soll sich im VfGH die politische Vielfalt im Land widerspiegeln? Derzeit wurden sämtliche Mitglieder von SPÖ oder ÖVP nominiert.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein höchstes Staatsorgan wie der Verfassungsgerichtshof von anderen höchsten Staatsorganen, also Nationalrat, Bundesrat, Regierung und Bundespräsident, bestellt wird. Das trägt auch zur demokratischen Legitimation des Gerichts bei. Ich würde es aber für falsch halten, einen parteipolitischen Proporz auch festzuschreiben. Wichtig ist, dass alle Mitglieder höchstqualifiziert sind und das entsprechende Ethos mitbringen, also unbeeinflusst und vorurteilsfrei an den Entscheidungen mitwirken. Das ist in Österreich seit Jahrzehnten der Fall.

Zur Person

Gerhart Holzinger

1947 in Gmunden geboren, wechselte Holzinger 1975 nach dem Studium in Salzburg nach Wien in den Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts, den er später auch leitete. 1995 Ernennung zum Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, seit 2008 Präsident.