Bundestag wählt Merkel am Dienstag zur Kanzlerin. | Widerstand in Teilen der SPD. | Stoiber reißt CSU in die Tiefe. | Berlin. Freitag mittags wurde der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD im Foyer des Paul-Löbe-Hauses, unmittelbar am Reichstag, feierlich unterzeichnet. Auf den Tag genau zwei Monate nach der Bundestagswahl schließen die einst feindlichen Wahlkampfgegner ein Bündnis, das vier Jahre halten soll.
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Hinter den Kulissen ging es weit weniger feierlich zu. Hatten die Unterhändler in den Koalitionsverhandlungen auf beiden Seiten guten Willen gezeigt und die Bereitschaft zum Kompromiss bis zur Zerreißprobe beschworen, so versuchten im letzten Augenblick einige "Zündler", Lunte zu legen und das Hochzeitszeremoniell zu stören.
Neue Schulden: Illegal oder unabwendbar?
Seit einer Woche steht fest, dass Schwarz-Rot mit einem Haushalt startet, der das von der Verfassung vorgeschriebene Übergewicht der öffentlichen Investitionen über die Neuverschuldung nicht erfüllt. Der Streit, ob es sich um die "Erblast der rot-grünen Regierung" handelt oder ob man "nur" eine "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" abwenden müsse, war so nötig wie ein Kropf.
Am Ende einigte man sich auf einen Formelkompromiss, um den Buchstaben des Grundgesetzes zu erfüllen und den Sanktus des Bundespräsidenten zu ermöglichen, der ein verfassungswidriges Gesetz ja nicht unterzeichnen könnte (siehe Kasten).
SPD-Rachegelüste nach Thierse-Wahlflop
Für miese Stimmung sorgten einige SPD-Hinterbänkler, die sich am kommenden Dienstag bei der Wahl von CDU-Chefin Angela Merkels zur Bundeskanzlerin nicht in die Koalitionsdisziplin einbinden lassen und sich für das schlechte Ergebnis bei der Wahl Wolfgang Thierses zum Parlamentsvize "revanchieren" wollen. Prompt kamen mahnende Worte aus München: CSU-General Markus Söder mahnte die SPD, die Koalition schon beim Start mit abweichendem Stimmverhalten zu belasten.
Berlins "Regierender" Klaus Wowereit, der sich nur mit Hilfe der Linkspartei PDS an der Macht halten kann, möchte die SED-Nachfolgerin auch auf Bundesebene salonfähig machen. "Es wäre töricht", sagte der Sozialdemokrat in einem Zeitungsinterview, in vier Jahren "nur die Neuauflage der großen Koalition zu planen". Prompt wurde er vom neuen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck in die Schranken gewiesen, unterstützt vom Bundestagssprecher der Ost-SPD, Stephan Hilsberg.
Einen richtigen Krach könnte der Vorstoß von Ulla Schmidt (SPD), der alten und neuen Gesundheitsministerin, auslösen, die buchstäblich fünf vor zwölf einen alten Richtungsstreit neu entfacht hat. Union und Sozialdemokraten sind in der Gesundheitspolitik echte Antipoden. Deshalb wurde die Gesundheitsreform im Koalitionsvertrag bewusst ausgespart. Diese Lücke machte sich Schmidt nun zunutze und trat am Donnerstag mit dem - unabgestimmten und kontroversen - Vorschlag vor die Presse, die Tarife für ärztliche Leistungen zu vereinheitlichen. Im Kern geht es dabei um die Zukunft der privaten Krankenversicherungen.
Der SPD sind sie seit langem ein Dorn im Auge, weil sie eine "Zweiklassen-Medizin" kritisiert. Die Union wiederum sieht die Gefahr einer "Monopolisierung der Kassenmacht", wenn der Wettbewerb wegfällt. Wie auch immer: Das Thema ist explosiv für die Große Koalition. Wenn die "Methode Schmidt" Schule macht, wird diesem Bündnis keine lange Lebensdauer beschieden sein.
Stoiber vor dem Absturz?
Indes scheinen die politischen Tage des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber gezählt zu sein. Die Muskeln, die er bundespolitisch so oft spielen ließ, schmolzen unter Merkels kalter Sonne dahin wie Butter. Und die "rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln"-Taktik ist grandios gescheitert. An dem Verlust von 14 Prozentpunkten in der Wählergunst hat die CSU, die damit nur noch bei 45 Prozent Zustimmung liegt, derzeit schwer zu knabbern. Nun hatte wohl auch der alte Strauß seine Tiefs (z.B. 1994), aber "quod licet Iovi..." Vor allem würde die "Bayern-Partei" zum ersten Mal seit vierzig Jahren ihre "Absolute" einbüßen.
Im Hintergrund hält sich Stoibers Vize, Innenminister Günther Beckstein, bereit, der bei der Regierungsbildung nicht zum Zuge kam. Beckstein wäre der erste in diesem Amt, der seine Weihen nicht unter Franz-Josef Strauß erhalten hat. Sein einziger "Nachteil": Er ist Franke.
Wie war also der Wetterbericht am Hochzeitstag von Schwarz-Rot? Unterschiedlich bewölkt, vereinzelt Schauer, Höchsttemperatur drei Grad, weitere Aussichten: trübe.
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