Wie sich CSU und Grüne bei den Sondierungen in der Flüchtlingsfrage verrannt haben.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlin/Wien. Fußball-Metaphern und Politik: Das geht selten gut. Auch bei Cem Özdemir. "Wir gehen in die Verlängerung", raunte der Grüne im stockdunklen Berlin in die Kameras, nachdem die Sondierungsgespräche mit CDU, CSU und FDP vertagt worden waren. Im Fußball sind die Regeln klar, zweimal 15 Minuten müssen sich die Spieler dann noch über den Platz plagen.
Wie lange die Jamaika-Sondierer einander und die Öffentlichkeit quälen, wissen sie selbst nicht. "Das ganze Wochenende, davon gehen wir mal aus", sagt der Fraktionschef von CDU/CSU im Bundestag, Volker Kauder. Nicht einmal in der konservativen Union herrscht in der Frage Konsens, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer will sich nicht festlegen: "Ich würde nach den Erfahrungen der letzten Tage kein Zeitlimit sehen." Die FDP tut dies sehr wohl, und zwar für Sonntag 18 Uhr, wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki am Freitag sagte. Wenn es bis dahin keine Einigung gibt, werde es keine Verhandlungen über eine Koalition geben.
Fest steht nach vier Wochen zäher Verhandlungen: Die Parteien kommen bei den immer gleichen Themen nicht voran. Das gilt zuallererst für die emotional sowie symbolisch überfrachtete Migrationsfrage. Flucht, Asyl und Integration, da sind sich Union und Grüne traditionell uneins. Dieser Graben hat sich mit dem Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl im September - sie erreichte 12,6 Prozent - noch vertieft. Schließlich interpretieren die Konservativen den Dammbruch einer Kraft rechts von ihnen im Bundestag als Auftrag, nun selbst weiter nach rechts zu rücken. Über Monate wies Kanzlerin Angela Merkel die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge in Höhe von 200.000 Personen pro Jahr zurück. Nachdem die Union bei der Bundestagswahl nur knapp 33 Prozent erzielt hat - minus 8,6 Prozentpunkte -, hat Merkel ihren Widerstand aufgegeben.
Zwar findet sich das O-Wort nicht mehr. Aber die Schwesterparteien haben sich geeinigt, dass bei Aufnahmen abzüglich Abschiebungen und freiwilligen Rückreisen in die Heimat unter dem Strich maximal 200.000 herauskommt. Seehofer hat Merkel dieses Versprechen abgetrotzt. Warum sollte er es nun aufgeben, bloß weil eine 8,9-Prozent-Partei dazu drängt? Oder die noch unter Schwarz-Rot beschlossene Aussetzung des Familiennachzugs für Menschen mit eingeschränktem Asylstatus bis März 2018 in der kommenden Legislaturperiode fallenlassen? Erst recht, da im Herbst kommenden Jahres Landtagswahlen in Bayern anstehen und die CSU vor der AfD und um ihre absolute Mehrheit bangt - also einen Verhandlungserfolg in Berlin derzeit bitter nötig hat.
Abräumen an falscher Stelle
Umgekehrt beißen sich die Grünen an der Flüchtlings-Gegenposition fest. Das entspricht ihrem Selbstverständnis als bedingloslose Verteidigerin universeller Menschenrechte. Doch in der Verkehrs- und Klimapolitik, jenen Themen, mit denen die Öko-Partei groß geworden ist, räumte sie bei den Sondierungen frühzeitig ihre Wahlkampfforderungen. Nichts wird es mit dem Zulassungsverbot von Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2030, passé ist die sofortige Stilllegung der zwanzig schmutzigsten deutschen Kohlekraftwerke. Auch ihre Sondierungsforderung, die Stromproduktion in Kohlekraftwerken müsse um acht bis zehn Gigawatt reduziert werden, blieb unerfüllt. Laut den Grünen wäre diese Menge erforderlich, damit Deutschland 90 bis 120 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid-Ausstoß einspart und sein selbst gestecktes Klimaziel erreicht. Die Treibhausgase sollen bis 2020 um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert werden. Union und FDP boten fünf Gigawatt an, Merkel höchstselbst erhöhte dem Vernehmen nach auf sieben Gigawatt.
Keine Leuchtturm-Projekte
Anstatt sich zu verrennen, weil sie bei jedem Thema eine inhaltliche Einigung erzielen wollen, hätten die Sondierer eine andere Kompromissvariante wählen können, jene der Leuchtturm-Projekte. Jede der vier Parteien oder drei Fraktionen erhält einen Bereich, in dem sie sich profilieren kann. "Diese Art des Kompromisses ist in Deutschland jedoch nicht eingeübt. Das hässliche Wort vom Verrat an den eigenen Grundsätzen würden dann sicher einige Leute im Mund führen. Denn es geht gerade nicht nur um taktische Spielchen, sondern die prinzipielle Frage, was kann eine Partei akzeptieren, um als CSU oder Grüne wahrgenommen zu werden", sagt Wilhelm Knelangen.
Der Professor für Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität Kiel verweist im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" darauf, dass ausgerechnet eine schwarz-gelb-grüne Koalition diese Leuchtturm-Strategie verfolgt. Im nördlichsten Bundesland Schleswig-Holstein regieren die drei Parteien seit Ende Juni. Das Jamaika-Bündnis war dort nur eine Notlösung, aber die politisch einzig machbare - wie nun in Berlin. "Der CDU unter dem neuen Ministerpräsidenten Daniel Günther wurde die Verlängerung des Gymnasiums von acht auf neun Jahren zugestanden. Dazu kamen Verkehrsmaßnahmen und eine größere Entfernung zwischen Wohnbauten und Windkraftwerken. Umgekehrt ist im Sinne der Grünen festgelegt, dass es bei der Energiewende keine Abstriche gibt. Schleswig-Holstein produziert damit weiterhin viel mehr Energie, als es braucht", erklärt Knelangen. Die FDP wiederum habe bei ihrem Kernthema Entlastung der Wirtschaft einen Erfolg erzielt. Der Landes-Mindestlohn in Höhe von 9,18 Euro pro Stunde wird eingefroren und bis 2019 abgeschafft. Dann soll der derzeit niedrigere Bundes-Mindestlohn das jetzige Landesniveau des Nordens erreicht haben.
Im Saarland gescheitert
Auch in Schleswig-Holstein gingen im Wahlkampf beim Thema Flüchtlinge die Meinungen auseinander. CDU und FDP waren dafür, dass Personen auch nach Afghanistan abgeschoben werden dürfen, SPD und Grüne sprachen sich dagegen aus. "In der Praxis wird ohnehin jeder Fall einzeln geprüft. Gibt es Zweifel, findet keine Abschiebung statt. Es handelt sich also um einen ideologisierten Konflikt, symbolisch aufgeladen", sagt Knelangen.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass die maßgeblichen ideologischen Fragen trotz des ausgeprägten deutschen Föderalismus nicht in Kiel gefällt werden. Wer noch immer zu Jamaika hält, und das ist mittlerweile nur mehr die Hälfte der Deutschen, dem dient Schleswig-Holstein als Vorbild. Nachdem die Regierung jedoch erst kurz vor der dreimonatigen Sommerpause angelobt wurde, lässt sich noch nicht seriös sagen, ob sich Jamaika überhaupt bewährt. Wer dieses Bündnis ablehnt, bedient sich am besten des Saarlandes. Der Südwesten wagte 2009 erstmals diese Koalition, zweieinhalb Jahre später kündigte sie Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) wegen der desperaten FDP auf.
Die unsichtbare CDU
Beides waren Dreierkoalitionen, im Bund hätten es CDU, FDP und Grüne noch mit der CSU zu tun. Horst Seehofer ist Parteichef und Ministerpräsident auf Abruf. Sein Autoritätsverfall zeigte sich bereits im Verlauf der Sondierungen - die Junge Union forderte ihn gar zum geordneten Rückzug auf. Während Seehofer insbesondere anfangs blumige Worte für die Grünen fand, überboten einander Generalsekretär Andreas Scheuer und Alexander Dobrindt, Verkehrsminister unter Schwarz-Rot und Leiter der Landesgruppe im Bundestag, in den vergangenen beiden Wochen mit bissigen Kommentaren über die Öko-Partei.
"Dobrindt und Scheuer wittern, dass sie nicht mehr so viel Rücksicht auf ihren Parteichef nehmen müssen. Was nun in Berlin beschlossen wird, würde nach Seehofers Rücktritt von anderen umgesetzt werden", sagt Politikprofessor Knelangen. Als Favorit für die Nachfolge gilt Bayerns Finanzminister Markus Söder. Ihn will Seehofer mit allen Mitteln verhindern. Nachdem die CSU bei der Bundestagswahl mit 38,5 Prozent das schlechteste Ergebnis seit 1949 einfuhr, geht es für Seehofer nur mehr um einen gesichtswahrenden Rückzug. Sein Nachfolger hat die AfD in Schach zu halten, die im September 12,5 Prozent in Bayern erzielte. Die CSU muss also nun in Berlin bei den Jamaika-Sondierungen und den möglichen Koalitionsverhandlungen Flagge zeigen, um im Freistaat im Vorfeld des Urnengangs im Herbst 2018 zu punkten. "Ein CSU-Erfolg bei einer Landtagswahl ist Lebensgrundlage für die Daseinsberechtigung der Partei im Bund", sagt Wilhelm Knelangen.
Während der bayerische Löwe seine Krallen in Berlin ausfährt, ist völlig unklar, was Merkels CDU in den Sondierungen durchsetzen will. Sogar die FDP ist öffentlich stärker aufgefallen mit ihrer Forderung, den Solidaritätszuschlag für den Osten der Republik ab 2019 aufzuheben. Seehofer wies am Freitag Meldungen zurück, wonach es zwischen ihm und Merkel in der Migrationspolitik Differenzen gebe. Im sogenannten Beichtstuhlverfahren lotete die Kanzlerin mit den jeweiligen Parteichefs Kompromisslinien aus; unter anderem hakt es beim Klimaschutz. Merkel soll zwar in Sitzungen unangefochtene Chefin sein - und brachte dennoch nicht den Zeitplan der Sondierungen durch. Nach zwölf Jahren Kanzlerschaft samt Eurokrise und Griechenland-Rettungspaket wirkt sie zumindest auch diesmal nicht nervös.