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"Der konventionelle Krieg ist nicht obsolet"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Der frühere australische General Mick Ryan gehört zu den großen Erklärern des Ukraine-Krieges im englischsprachigen Raum. Im Interview spricht der Autor eines Buches über den Krieg der Zukunft über die Lehren der ersten fünf Monate.


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"Wiener Zeitung": In der Ukraine toben die Kämpfe nun schon seit fünf Monaten. Der bisher wohl größte Krieg des 21. Jahrhunderts wird aber nicht nur mit den Waffen aus den Zeiten des Kalten Krieges geführt, die Taktik auf dem Schlachtfeld und die Artillerieduelle erinnern auch an den Ersten Weltkrieg. Sie haben ein Buch über die Zukunft des Krieges geschrieben, hat Sie das alles überrascht?

Mick Ryan: Nicht übermäßig. Ich habe nie geglaubt, dass die konventionelle Kriegsführung obsolet ist, weil diese Art der Kriegsführung einen ganz klaren Nutzen hat, wenn man seinen Gegner tatsächlich umfassend überwältigen will. Man kann Informationsoperationen durchführen, man kann Drohnen einsetzen, aber worauf es am Ende ankommt, ist der Mann auf dem Boden mit der Waffe. Vor allem autoritäre Regime messen dem auch eine entsprechend große Bedeutung bei. Was mich aber überrascht hat, war, wie schlecht Russland diese Kräfte eingesetzt hat. Auf der strategischen Ebene gab es keine Vergemeinschaftung der Anstrengungen, die Frontabschnitte im Norden, Nordosten, Osten und Süden wurden in der ersten Phase des Krieges quasi isoliert voneinander betrachtet. Es gab keine Integration der Boden- und Luftkräfte und auch die Bodentruppen untereinander haben nicht gut zusammengewirkt. All das war angesichts der russischen Doktrin und dem, was Leute wie Generalsstabschef Waleri Gerassimow in den vergangenen Jahren gesagt und geschrieben haben, so nicht zu erwarten gewesen.

Nachdem die russische Armee nicht in der Lage war, Kiew und Charkiw einzunehmen und sich zurückziehen musste, erzielt sie im Donbass nun langsam aber beständig Geländegewinne. Was hat sich im Vergleich zur ersten Phase des Krieges geändert?

Ich denke, die Russen haben begriffen, dass vier separate Kampagnen in vier räumlichen getrennten Frontabschnitten und ein globaler Informationskrieg selbst für sie zu viel waren. Ihr Militär war dafür einfach nicht groß genug. Und natürlich hat Russland nicht für einen langen Krieg geplant, es wollte einen Blitzkrieg führen. Das will jeder Militär, der in den Krieg zieht, aber das ist, wie wir aus historischer Perspektive wissen, nahezu unmöglich. Mit der Verlagerung des Fokus auf den Donbass ist es der russischen Armee aber einigermaßen gelungen, ihre Offensivkräfte zu konsolidieren. Damit wurde der Vormarsch möglich.

Wie wird sich der Krieg in den kommenden Monaten Ihrer Einschätzung nach entwickeln?

Ich denke, beide Seiten wollen zeigen, dass sie Fortschritte machen, bevor der Winter kommt. Den Ukrainern wird es dabei vor allem darum gehen, den eigenen Leuten zu demonstrieren, dass die Armee die Russen nicht nur aufhalten kann, sondern auch in der Lage ist, Territorium zurückzuerobern. Damit würde man gleichzeitig auch ein deutliches Signal an den Westen schicken, dass es sich nach wie vor auszahlt, die Ukraine zu unterstützen. Die Russen wiederum werden der Bevölkerung daheim zeigen wollen, dass die bisherigen Opfer nicht umsonst waren und dass das, was Präsident Wladimir Putin versprochen hat - nämlich zumindest die Eroberung des Donbass -, auch geliefert wird. Beide Seiten befinden sich also in einem Wettlauf mit der Zeit und die nächsten vier Monate werden daher wohl noch einmal deutlich blutiger werden.

Sie haben gerade vom ukrainischen Wunsch gesprochen, die besetzten Gebiete im Süden rund um Cherson zurückzuerobern. Aber sind die Ukrainer, was Material und Mannstärke betrifft, dazu überhaupt in der Lage?

Ich glaube, in zunehmendem Maße. Es gibt auf jeden Fall den Willen und den Mut dafür und meiner Einschätzung nach gibt es auch noch gepanzerte Kräfte, die zusätzlich eingesetzt werden können. Letzteres wird vor allem wichtig werden, wenn es darum geht, im Zuge einer Gegenoffensive russische Verteidigungslinien zu durchbrechen. Mit den Himars-Raketenwerfern aus den USA, den französischen Cesar-Geschützen und den deutschen Panzerhaubitzen 2000 wächst zudem die Fähigkeit der Ukraine, Schläge gegen Einrichtungen tief im feindlichen Hinterland zu führen. Allerdings stellt sich die Frage, wie viele Verluste die Ukraine bei den höherrangigen Offizieren erlitten hat. Das Gefecht der verbundenen Waffen, bei dem die verschiedensten Truppenteile unterstützend zusammenwirken, ist in der Offensive nämlich enorm komplex und benötigt nochmals deutlich mehr Planung und Koordination als Verteidigungsoperationen. Das wird in jedem Fall kein einfacher Kampf, und die Ukrainer werden nicht nur westliche Unterstützung bei der Aufklärung brauchen, sondern auch die Bereitschaft, große Opfer zu bringen.

Was sind die größten Herausforderungen für die russische Armee?

Russland hat bisher ganz offensichtlich ein Problem damit gehabt, genügend Soldaten ins Feld zu schicken. Man hat es zwar geschafft, im aktuellen Turnus die geplante Zahl an Wehrpflichtigen einzuziehen, aber diese Soldaten werden - sofern man sie halbwegs vernünftig ausbilden will - nicht in naher Zukunft zum Einsatz kommen. In der russischen Armee geht zudem die Präzisionsmunition zur Neige. Das ist allerdings ein Trend, den wir in allen Ländern beobachten, keine Armee hat genug Vorräte an Präzisionsmunition für einen langen Konflikt. Auch Russlands Zugang zur Hochtechnologie,insbesondere zu Chips, die auch in Waffensystemen eingesetzt werden, ist durch die westlichenSanktionen eingeschränkt. Allerdings verfügt Russland über enorme Vorräte an Kriegsmaterial, nicht alles davon ist modern, aber wie Stalin schon gesagt hat: Quantität hat ihre eigene Qualität.

Was sind die wichtigsten Lehren, die Armeeführer und Militärstrategen bisher aus diesem Krieg ziehen können?

Es gibt einige. So müssen die militärischen Befehlshaber auf jeden Fall Teil der Strategieentwicklung sein. Es ist ziemlich klar geworden, dass der russische Plan in militärischer Hinsicht nicht sehr durchdacht war, das Zusammenspiel zwischen ziviler und militärischer Strategie war nicht gegeben. Bei der Ukraine hat sich dagegen gezeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Entscheidern sehr eng ist. Die zweite Lehre ist wohl die Bedeutung von Informationsoperationen. Die Ukrainer sind hier sehr gut und sie haben es dadurch auch geschafft, sich die breite Unterstützung des Westens - von der Wirtschaftshilfe über das Teilen von Geheimdienstinformationen bis hin zu Waffenlieferungen - zu sichern. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dabei zweifellos eine entscheidende Rolle gespielt, aber auch der gesamte diplomatische Apparat hat hier viel dazu beigetragen. Russland hat natürlich ebenfalls Informationsoperationen durchgeführt, aber wir reden darüber viel weniger, weil sie dort stattfinden, wo wir weniger hinschauen - in Afrika, im südlichen Asien und in China. Der dritte Punkt ist schließlich, dass Masse zurück ist. Große, konventionell geführte Kämpfe werden in naher Zukunft unweigerlich Teil der Kriegsführung sein. Wer in den Krieg zieht, muss diese Unmengen an Waffen aber nicht nur produzieren, sondern auch erhalten können. Es braucht Munition und Ersatzteile und vor allem das logistische System, das das alles verbindet und zusammenhält. Allerdings fehlen diese Kapazitäten in praktisch allen westlichen Staaten durch die Konsolidierungsprozesse in der Verteidigungsindustrie. Wir müssen also wieder in unsere Fähigkeiten zur industriellen Kriegsführung investieren, nicht nur als individuelle Nationen, sondern auch innerhalb von breiten Allianzen.

Es gab viel Spott und Häme über das Versagen der russischen Armee. Das hat bei den Lastwagenreifen, die wegen mangelhafter Wartung einfach weggerottet sind, begonnen und hat dann seinen Höhepunkt bei einer gescheiterten Flussüberquerung mit Pontonbrücken gefunden, bei der die Russen massive Verluste erlitten haben. Westliche Armeen mögen vielleicht bessere Wartungsprotokolle haben, aber können wir uns sicher sein, dass sie sich, was Strategie und Taktik betrifft, besser auf dem Schlachtfeld schlagen?

Kurz gesagt: Nein. Wir dürfen die Herausforderungen großer, konventioneller Offensivoperationen auf keinen Fall unterschätzen, das ist etwas, das der Westen - abgesehen vom Golfkrieg 1991 und dem Einmarsch im Irak 2003 - seit Jahrzehnten nicht gemacht hat. Das Gefecht der verbundenen Waffen ist wirklich, wirklich schwierig. Und selbst die in der Geschichte erfolgreichsten Armeen haben große Verluste an Mensch und Material erlitten. Entsprechend sehe ich auch die zuletzt aufgekommene Erzählung vom Ende des Panzers als uninformiert und flach an.

In ihrem Buch und ihren Kommentaren weisen Sie immer darauf hin, wie wichtig es für Armeen ist, zu lernen und sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Ist das wichtiger als viele Panzer zu haben?

Es ist beides wichtig. Aber Krieg ist tatsächlich ein Wettbewerb des Lernens und der Anpassung. Wer lernt schneller? Wer kann sicherstellen, dass seine Organisation die richtigen Schlüsse zieht, um sich konstant zu verbessern? Ich denke, die Ukrainer haben bisher gezeigt, dass sie den Russen in dieser Hinsicht überlegen sind. Die Russen haben etwa lange gewusst, dass die über eine große Reichweite verfügenden US-Himars-Raketenwerfer kommen werden, aber sie haben es den Ukrainern nicht schwerer gemacht, hochrangige Ziele wie Munitionsdepots oder Kommandoposten zu treffen.

Kann die Ukraine diesen Krieg also noch gewinnen? Und was wäre die Definition eines Sieges?

Ja, das kann sie. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass die Unterstützung des Westens in allen Bereichen aufrecht bleibt. Die Ukraine braucht allein 9 Milliarden Dollar, um ihren Staatsapparat am Laufen zu halten. Und mit den Exportschwierigkeiten wird der ökonomische Aspekt dieses Krieges zunehmend schlagend werden. Letztendlich wird es für die Ukraine darum gehen, ihr Territorium zurückzugewinnen. Ich sehe nicht, dass die Ukrainer einen anderen Ausgang akzeptieren werden als zumindest die Rückkehr zu den Grenzen vor dem 24. Februar.

Zur Person~