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Neue Erkenntnisse der Arabistik legen den Schluss nahe, dass der Koran der christlich-jüdischen Tradition wesentlich näher steht, als gemeinhin angenommen wird.
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Auch elf Jahre nach dem 11. September 2001 kommt der Islam nicht aus den Negativschlagzeilen heraus. Ganz gleich ob es sich dabei um die drohende Atommacht Iran, die Wahlsiege der Muslimbrüder im Zuge des arabischen Frühlings oder um die anhaltende Kopftuchdebatte handelt. Dabei kommt eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Kultur und Denkweise des Islams in der öffentlichen Diskussion oft zu kurz.
Seit dem Jahr 2007 arbeitet ein Forscherteam unter der Leitung der Arabistin Angelika Neuwirth im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an einem wissenschaftlichen Megaprojekt, das zu einer genaueren Beschäftigung mit dem Islam einlädt: einer fünfbändigen, historisch-kritischen, kommentierten Ausgabe des Korans. Die Ausgabe wird voraussichtlich 2014 fertiggestellt, aber in dem Buch "Der Koran als Text der Spätantike" ist der Ansatz von Frau Neuwirth der Fachwelt bereits zugänglich. Eine Wende in unserem westlichen Blick auf die religiöse Gründungsurkunde des Islams zeichnet sich ab.
Das Buch als Dialog
Die Kernthese von Angelika Neuwirth besteht darin, dass der Koran (zu deutsch "Vortrag") nicht wie bisher als Buch angesehen werden dürfe. Er sei vielmehr als eine Reihe mündlicher Vorträge aufzufassen, die erst 30 Jahre nach Mohammeds Tod 632 n. Chr. niedergeschrieben wurden.
Aus dieser Sichtweise ergeben sich eine Reihe von Schlussfolgerungen. Handelt es sich, wie bisher hauptsächlich angenommen, beim Koran nicht um ein fertiges Buch, das von einem Autor bewusst als solches konzipiert und im Ganzen niedergeschrieben wurde, eröffnet sich die Perspektive einer dynamischen Entwicklung des Korans als Dialog zwischen Mohammed und seiner wachsenden und sich verändernden Gemeindeorganisation.
Die Verkündigung muss als Antwort auf in der Gemeinde und ihrem Umfeld diskutierte Fragen verstanden werden. Angelika Neuwirth zeigt, dass es sich bei diesen Diskussionen der Ur-Gemeinde nicht um primär arabische Fragen handelt, sondern um die großen Fragen der ganzen Epoche und des gesamten spätantiken Kulturraums, dessen inte-graler Teil Arabien damals war.
Westliche Orientalisten betrachteten die arabische Halbinsel vor der Wirkungszeit Mohammeds lange als Raum der Unwissenheit und Barbarei. In Wirklichkeit war die Region kulturell und ökonomisch so eng mit der benachbarten römischen Provinz Arabia verflochten, dass sie sogar einige römische Kaiser hervorbrachte. Die beduinisch-höfische Kultur muss als hellenisiert betrachtet werden. Seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. sickerten zudem jüdische und christliche Gruppierungen in den arabischen Raum ein. Später kamen wahrscheinlich auch dissidente Christen hinzu, die einer Verfolgung durch die römische und byzantinische Staatskirche als Häretiker entgehen wollten. In Südarabien lässt sich vor Mohammed ein 200-jähriges jüdisches Reich nachweisen.
Die spätantiken Dialoge, aus denen der Koran hervorging, waren auf diese Weise Dialoge mit jüdischen Gelehrten, Christen und einer hellenistisch geprägten beduinischen Bildungsschicht. Als besonders bedeutsam erweisen sich die Antworten, die der Vortrag Mohammeds auf die Probleme der damaligen christlichen Weltkirche gab.
Der wesentliche Zankapfel des spätantiken Christentums war die Frage der Dreifaltigkeit. Die Arianer, die in Syrien, Ägypten und Kleinasien eine Mehrheit der Gläubigen hinter sich wussten, lehnten die katholische Idee der Wesensgleichheit von Jesus und Gott vehement ab. Jesus sei Mensch gewesen und erst nach dem Tode am Kreuz von Gott adoptiert worden. Der Koran bezieht in diesem Konflikt klar gegen die Idee der Dreifaltigkeit Stellung. Er predigt das rein menschliche Wesen Jesu und einen strengen Monotheismus.
Eine Konzeption, die nach einem Jahrzehnte langen, immer spitzfindiger werdenden Theologen-Disput angenehm klar und attraktiv wirken musste. Die Position, Jesus sei ein wichtiger Prophet und Lehrer gewesen, entspricht zudem dem vermutlichen Jesusbild der ersten Christen und dem Bild, das Jesus laut den synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) von sich selbst zeichnet.
Die Frage der Erlösung
Bemerkenswert ist auch die Polemik zwischen Augustinus von Hippo (354-430 n.Chr.) und dem britischen Mönch Pelagius (350-420 n. Chr.), der die katholische Konzeption der Erbsünde in Frage stellte: Der Mensch sei grundsätzlich gut und könne durch gerechtes Handeln ganz alleine auch ohne einen göttlichen Gnadenakt zur Erlösung gelangen. Auch in dieser Diskussion mischt der Koran mit. Die Erbsünde wird abgelehnt, der Vortrag versteht sich selbst als Erinnerung, die den Menschen auf seine ursprüngliche Einheit mit sich selbst hinweisen soll.
In Nordafrika lehnten 313 n. Chr. die Donatisten oder Agonistici die Versöhnung zwischen der Kirche und dem römischen Kaiser Konstantin ab. Auch sie stellten die Frage der Gerechtigkeit der Gesellschaft und des Einzelnen in den Vordergrund ihrer Erlösungserwartung und strebten als Kirche der Märtyrer danach, gemeinsam mit Berberstämmen in Nordafrika die Ideale der Propheten zu verwirklichen.
Allen drei von der Staatskirche als Irrlehren bekämpften christlichen Strömungen ist gemeinsam, dass sie die Erlösung des Menschen durch gerechtes Handeln predigen, das sie dem paulinischen Konzept von der alleinigen Erlösung durch den Glauben an das Auferstehungsmysterium gegenüberstellen. Der Islam, der die Wiederherstellung einer verloren gegangenen Gerechtigkeit zu seinem zentralen Programm machte, traf damit den Nerv der Zeit. Zudem konnte er punkten, indem er die frühchristliche Erwartung eines baldigen Weltendes neu belebte und sich wie die ersten Christen auf die ärmsten Schichten der Bevölkerung stützte.
Es ist nicht verwunderlich, dass der letzte Kirchenvater Johannes von Damaskus (675-750 n. Chr.), der selbst unter den Umaiyaden diente, den Islam als christliche Häresie deutete. Auch Nikolaus von Kues (1401-1464) war dieser Meinung. Der Begründer der kritischen Theologie, Adolf von Harnack (1851-1930), betrachtete den Islam als Umbildung des Judenchristentums durch einen großen Propheten. Auch heute wollen Koranforscher wie Günter Lüling und Christoph Luxenberg den Ursprung des Korans in judenchristlichen Strophenliedern erkennen.
Als Judenchristen bezeichnet die Theologie eine frühchristliche Strömung, die auf die Jerusalemer Gemeinde um Jakobus zurückgeht. Auf das Denken der frühen Judenchristen können wir indirekt aus den Paulusbriefen schließen, wo die Anhänger des Jakobus als gegnerische Apostel, als "falsche Brüder" auftreten. Besonders aufschlussreich sind die berühmten Ausführungen von Paulus über die Liebe in "Korinther 1; 13,1 ff.".
Dort wirft er seinen innerchristlichen Gegnern vor, das Sprechen mit Engelszungen, das Verteilen der Habe unter den Armen und das Wissen der Propheten über die Liebe zu stellen. Mit den Konzepten des göttlichen Wissens, des Almosendienstes und dem Sprechen eines durch Engel vermittelten Vortrages, greift Pauluse theologische Begriffe an, die später auch für den Islam zentral werden sollten. Paulus wirft den "Predigern der Gerechtigkeit "vor, einen anderen Jesus zu predigen [2. Korinther 11, 4ff] und stellt dem alten Konzept der Werkgerechtigkeit, das die Propheten des alten Bundes verfolgten, den allein selig machenden Glauben an Jesus, den Sohn Gottes, gegenüber.
Ist der Islam ein später Ausfluss eines antipaulinischen Urchristentums, das sich auf die Jerusalemer Gemeinde berufen kann? Das Selbstbild Mohammeds als Siegel der Propheten, als einer, der die alte von Jesaia gepredigte eschatologische Lehre der Gerechtigkeit erneuert, der die wahre Botschaft des Propheten Jesus von späteren Fälschungen und heidnisch-griechischen Vergöttlichungen reinigt, passt jedenfalls gut in dieses Bild.
Eine Neuschöpfung
Angelika Neuwirth zeigt aber, dass es sich beim Koran nicht einfach nur um eine christliche "Häresie" handelt, sondern, um eine komplexe religiöse Neuschöpfung. Im Dialog zwischen Mohammed und seiner Gemeinde entwickelte sich eine über Jahre hinweg verhandelte Gründungsurkunde, in der zuvor getrennte kulturelle, sittliche, religiöse und politische Strömungen zu einer neuen schöpferischen Einheit geformt wurden.
Der Koran setzte sich nicht etwa deshalb durch, weil er der Bibel eine arabische Form gab, wie es konservative westliche Orientalisten lange meinten, sondern weil er eine Theologie entwickelte, die von Nordafrika bis Kleinasien, Syrien und Ägypten, ja sogar bis Rom Antworten auf die Kernfragen des damaligen Denkens, auf die Probleme der Spätantike gab.
Wie aber konnte der Koran mit so einem gewaltigen Buch wie der Bibel in Konkurrenz treten? Der Koran ist Rede, während die Bibel Buch ist. Anstelle der literarischen Ästhetik der Bibel treten beim Koran rhetorische, poetische und akustische Ästhetiken, die sich leider nur dem zur Gänze erschließen, der in arabischer Sprache lesen kann.
Die ungeheuer schnelle Expansion des Islams deutet darauf hin, dass die Menschen, an die sich der Koran richtete, die gebildeten Schichten der Spätantike, die Botschaft des Korans in weiten Teilen dem römischen und byzantinischen Christentum vorzogen. Sie sahen den Koran nicht als Abklatsch der Bibel, sondern als einzigartige, unnachahmliche Neuheit.
Josef Falkinger, geboren 1981 in Linz, lebt in Wien und arbeitet als Wirtschaftsstatistiker und als Journalist für Wissenschaftsthemen.
Literaturhinweis:Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Verlag der Weltreligionen, Suhrkamp/Insel Verlag, 859 Seiten, 39,90 Euro.