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Der Körper weiß, wie spät es ist

Von Elisa Gregor

Reflexionen
© Corbis

Unser modernes Leben bringt unsere biologische Uhr immer mehr aus dem Takt, sodass die biologische und die gesellschaftliche Uhr im Dauerkonflikt sind.Ist die Differenz besonders groß, sprechen Chronomediziner sogar vom "sozialen Jetlag", der schlimme Folgen für die Gesundheit haben kann.


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Heutzutage haben wir mehr Uhren als Zeit. Das ist gut, denn es bedeutet Wohlstand. Und es ist schlecht, weil keine Zeit zu haben für die moderne Form menschlicher Verarmung steht. Zeit wird gespart, gemanagt und geht am Ende doch verloren. Laut Umfragen steht jeder Zweite unter starkem Termindruck, mehr als die Hälfte der Gehetzten leidet unter Zeitnot.

Kein Wunder. Informationen gehen in "Echtzeit" um die Welt. Nachrichten, Märkte, Angebote - alles sollte man gleichzeitig im Auge behalten, um mitreden,

vorausdenken, im richtigen Moment schlagfertig sein zu können. Ob an der Börse oder im Unternehmen: Der Zeitspielraum schrumpft, es geht um das perfekte "Timing". Was eben noch gegolten hat, ist morgen schon veraltet: Die Rechenleistung von Mikrochips verdoppelt sich alle 18 Monate, das Weltwissen alle fünf bis zehn

Jahre. Und genau wie unsere Technik müssen auch wir uns ständig "updaten", sonst sind wir nicht kompatibel.

Dass wir bei einem derartigen Leben andauernd den menschlichen Organismus überlisten, kann nicht ohne Folgen bleiben. Vor allem, weil der heilsame Rhythmus, der einst unser Leben bestimmte, auf diese Art abhandenkommt. Dabei wird er, solange wir leben, von Rhythmen bestimmt, jenen im Millisekundentakt, wie den Nervenimpulsen, bis hin zu längerfristigen, wie dem Schlaf-Wach-Rhythmus. Seine Bedeutung hatte der senegalesische Dichter und Staatsmann Léopold Sédar Senghor auch ohne wissenschaftliche Begründung erkannt. "Der Rhythmus ist die Architektur des Seins", schrieb er, "ist die innere Dynamik, die ihm Form gibt, ist das Wellensystem, welches das Sein dem Anderen entgegensendet, ist der eine Ausdruck der Lebenskraft."

Der Mensch von heute ist dabei, sich vom Rhythmus der Natur abzukoppeln, Taktgeber wie private und soziale Rhythmen beginnen sich aufzulösen. Der Ladenschluss, die Betriebsferien oder die Fernsehnachrichten immer um 19.30 Uhr - vorbei. Einst folgte die Arbeit natürlichen Rhythmen wie dem Jahreswechsel oder den "Gezeiten", die mit dem Wasser auch die Tageszeit

"zerteilten". Während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde dann aus dem Tagwerk ein Werktag, danach teilte die Stechuhr die Zeit in Arbeit und "Freizeit". Heute verschwimmen selbst diese beiden Welten ineinander, und wo es früher feste gemeinsame Zeiten gab, muss man jetzt sogar in der Partnerschaft und in der Familie Verabredungen treffen.

In den sechziger Jahren, als Forscher am damaligen Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie eine Reihe Freiwilliger wochenlang in einem "Bunker" isolierte, war man verblüfft: Das Empfinden von Tag und Nacht, der sogenannte circadiane Rhythmus, funktionierte selbst unter Tag zuverlässig. Als circadiane Rhythmik (lateinisch circa = ungefähr; dies = Tag), landläufig auch Biorhythmus genannt, bezeichnet man den periodischen Wechsel, dem jedes Lebewesen auf der Erde unterworfen ist und der den Wach-Schlaf-Rhythmus der Organismen steuert.

Warum? Weil eine innere Uhr fast alles steuert: Sie sagt uns, wann wir müde oder hungrig sind, sie organisiert Herzfrequenz, Stoffwechsel, Hormonspiegel, Körpertemperatur und sogar die geistige Leistungsfähigkeit.

Aber wie kommt die Zeit in den Menschen, wie weiß die Leber, wie spät es ist? Es ist üblicherweise das Tageslicht, das ein Signal liefert und ab geht die Post. Nervenbahnen geben die Information "Licht" von den Augen an die Steuerzentrale im Gehirn weiter, denn unter unserer Schädeldecke sitzt die "Masterclock". Diese reiskorngroße Zentrale regelt fast alles: Drüsen schütten Hormone aus und regulieren so die regelmäßige Tätigkeit von Magen, Darm und Nieren. Auch der nächtliche Anstieg des Schlafhormons Melatonin wird von hier aus mitbestimmt. Wie bei einer Funkuhr gibt der Sender dabei jedoch nur ein Signal an die einzelnen Uhrwerke weiter, jede Zelle des Körpers hat so etwas wie ihre eigene innere Uhr.

Die Uhrenzentrale im Körper kann allerdings durch Umweltreize aus dem Takt geraten. Und umgekehrt. Die Chrono-Wissenschafter aller Fachrichtungen beschäftigen sich seit vielen Jahren damit, wie äußere Einflüsse die biologische Uhr des Menschen beeinflussen. Und sie umgekehrt unser Leben bestimmt. Feststeht mittlerweile, dass es innerhalb der Bevölkerung zwei Hauptkategorien von "Chronotypen" gibt. Die "Eulen", die spät zu Bett gehen und spät aufstehen, und die "Lerchen", die früh ins Bett schlüpfen und früh aufstehen.

Nur die innere Uhr von Kindern tickt noch anders: Als geborene Lerchen sind sie schon frühmorgens lebhaft. In der Pubertät ändert sich das: Jugendliche zählen typischerweise zu den Eulen. Erst im Alter von 21 Jahren ist ihre innere Uhr ausgereift.

Zusätzliche Erkenntnisse aus der Chronomedizin sind nicht unspannend: Normalerweise sinkt der Blutdruck nachts ab, der allerdings manchen Menschen mit Bluthochdruck fehlt. Sie haben ein deutlich gesteigertes Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden. Sie sollten laut Chronomedizinern abends Medikamente nehmen, um den Blutdruck in Schach zu halten. Schichtarbeiter hingegen müssen gegen ihre innere Uhr leben. Das zermürbt und führt zu Dauermüdigkeit. Außerdem erhöht sich dadurch ihr Risiko für bestimmte Krankheiten, zum Beispiel des Herz- und Gefäßsystems. "Ein gesunder Organismus", erklärt Professor Maximilian Moser, Chronomediziner und Physiologe an der Medizinischen Universität Graz, "ist chronobiologisch in Harmonie, seine Rhythmen sind synchronisiert und aufeinander abgestimmt. Gestörte Rhythmen treten bei Nacht- und Schichtarbeit, bei hohem Stress und bei Jetlag auf." Neue Studien hätten gezeigt, dass diese Störungen zu schweren Erkrankungen wie Stoffwechselstörungen, Herzinfarkt und erhöhter Krebsrate führen können. Man gebe, so Moser, dem Körper und der Seele keine Chance mehr, sich zu erholen - was er mehrmals täglich bräuchte.

Wir ignorieren also beharrlich, was Chronomediziner als "innere Zeitstruktur" bezeichnen. Zeitpläne und Leistungsanforderungen erlauben es ja nicht, lockerzulassen. Lieber ärgern wir uns über einen Durchhänger oder eine Unaufmerksamkeit, trinken einen Kaffee, einen Energy Drink und rauchen eine Zigarette, geht schon! Irgendwie.

Aber auch jene, die nicht jedes Wochenende Party feiern, kommen mit Arbeitszeiten, die nicht ihrem Chronotyp entsprechen, schlecht zurecht. Der Spätaufsteher, dessen Wecker um sechs Uhr klingelt, kann sich nicht so gut konzentrieren und reagiert langsamer. Muss sich also ein extremer Eulentyp in eine Lerchengesellschaft hinein zwängen, befindet er sich permanent in einem sogenannten "Sozialen Jetlag", wie das der Chronobiologe Professor Till Roenneberg von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität nennt. Denn unser innerer Schlaf- Wach-Rhythmus stimmt nur selten mit gesellschaftlichen Zeitplänen überein.

Gesund leben bedeutet also, den Körper und die Seele vor den Rhythmusstörern in unserem Alltag zu schützen. Wir brauchen ein geschärftes Bewusstsein für die leisen Prozesse im Organismus. Chronomediziner warnen: Wenn wir die vitalen Schwingungen nicht respektieren oder sie sogar unterdrücken, droht uns kurzfristig Erschöpfung, aber langfristig Schlimmeres. Dabei ginge es. Man müsste sogenannte "Rhythmusräuber" minimieren und sie durch "Rhythmusgeber" ersetzen.

"Rhythmusräuber" sind laut Chronomedizinern all jene Dinge, die wir ohnedies kennen oder erahnen: Stress ohne nötige Entspannung mit überlangen Sitzungen oder Autofahrten, Reizüberflutung durch pausenloses Fernsehen oder Computerspiele, Schlafstörung ohne Ausgleich durch Ruhe am Tag, unregelmäßige Lebensweisen, vor allem bei den Arbeits-, Schlaf- und Essenszeiten, Südflüge im Winter und Fernflüge über mehrere Zeitzonen.

Als "Rhythmusgeber" gelten regelmäßiger Schlaf und regelmäßige Essenszeiten, Pausen zur rechten Zeit, (empfohlen werden etwa 70 Minuten konzentriertes Arbeiten, dann 15 bis 20 Minuten Loslassen), Entspannen, Nachsinnen; ebenso wichtig in diesem Zusammenhang ist es, den eigenen Rhythmus kennenzulernen und zu respektieren sowie den Atem wahrzunehmen und Atemübungen zu machen. Ist der natürliche Rhythmus verloren gegangen, sind Regulationstechniken angesagt. Selbst ein Urlaub mit Nichtstun kann helfen und das vielbelächelte Rezitieren der

Silbe "om" bringt den Organismus angeblich wieder in den richtigen Takt.

Eine scheinbar banale, aber nicht wirklich in der Lebenspraxis verankerte Erkenntnis lautet also: Leben, das aus dem Takt gerät, macht krank. Die Wiederherstellung der intakten Rhythmik wird in der Medizin, insbesondere der präventiven Medizin der Zukunft, wahrscheinlich eine große Rolle spielen.

Die Chronomedizin.

Chronomedizin und Chronobiologie (chronos, griechisch = Zeit) befassen sich mit der Rhythmik menschlicher Funktionen. Medizinisch-naturwissenschaftliche Messwerte sind meist statische Momentaufnahmen dynamischer Vorgänge. Eine einzelne Blutdruckmessung hat daher nicht allzu viel Aussagekraft.

Der menschliche Organismus ist ein hochkomplexes, dynamisches System, die Messung biologischer Rhythmen und deren Wechselwirkung im Organismus sind daher für ein Gesamtbild notwendig.

Sehr wichtig ist die circadiane (tageszeitliche) Periode, sie ist aber nicht die einzige. Es gibt ein ganzes Spektrum verschiedenster rhythmischer Perioden, wobei bestimmte Perioden bestimmten Funktionen zugeordnet sind. Blutzucker- und Cholesterinspiegel sind unter anderem jahreszeitenabhängig.

Auch das Auftreten bestimmter Krankheiten ist zu bestimmten Zeiten wahrscheinlicher als zu anderen Zeitpunkten (Chronopathologie).

Aufgaben der Chronomedizin

Die Zeitstruktur in die medizinische, psychologische, soziologische und biologische Betrachtungsweise des Menschen zu integrieren.

Den Menschen nicht nur als physisches, linear strukturiertes Wesen zu betrachten, sondern die Vielfalt seiner Lebensprozesse in einem multiplen Netz von Rhythmen zu erkennen.

Körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden zu schaffen und zu bewahren.

Die Weiterentwicklung und Vermittlung von Prinzipien, zum frühzeitigen Erkennen belastender natürlicher und sozialer Umweltfaktoren und inadäquater Verhaltensmuster. Möglich werden soll das aus der exakten Interpretation der vielfältigen Parameter für die Vitalität und Erholungsfähigkeit des Menschen.