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Der köstlichste Schluck Wasser

Von Judith Belfkih aus Marokko

Politik
Endlich geschafft. Nach langen, kargen Stunden wird Harira aufgetischt.
© © © Radvaner/photocuisine/Corbis

Der Fastenmonat Ramadan in Agadir: ein Selbstversuch.


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Wäre der Ramadan eine Fernsehserie, es wäre der größte Straßenfeger aller Zeiten. Agadir ist menschenleer, der Strand hauptsächlich von Touristen frequentiert. Ein Volk, das weder isst noch trinkt, braucht keine Cafés, Bars und Restaurants. Sie bleiben nicht leer, sondern geschlossen.

Über der Stadt hat sich die sommerliche Hitze wie in einer Saugglocke festgesetzt. Mittags sind es bis zu 49 Grad im Schatten. Wer nicht muss, verlässt das Haus nicht. Der heiße Sahara-Wind trifft nur auf herumwirbelnde Plastiksackerl und Maultiertreiber, die den Müll durchsuchen. Selbst die sonst streunenden Hunde haben sich zurückgezogen. Fenster zu, Vorhänge vor. Möglichst kühl, möglichst dunkel soll es sein. Vom Morgengrauen bis zur Dämmerung ohne Essen und Trinken - Temperaturen, bei denen Wäsche schon auf der Leine riecht wie frisch gebügelt, machen das nicht einfacher.

Der Minister für islamische Angelegenheiten hat feststellen lassen, dass der neue Mond gesichtet wurde. Als feine, liegende Sichel schwebt er über dem frühen Abendhimmel. Das große Fasten hat begonnen und wurde am Vorabend des ersten Tages mittels Feuersirene angekündigt. Und das Fasten wird erst nach 30 Tagen, beim nächsten Neumond, beendet sein. Muslime in aller Welt verpflichten sich in dieser Zeit zur Enthaltsamkeit - dem Verzicht auf Essen und Trinken, auf Äußerlichkeiten wie Make-up, Parfum und aufreizende Kleidung und natürlich auf jede Form der Sexualität. Von der Morgendämmerung bis zu Sonnenuntergang.

Aufstehen um 3.30 Uhr

Der Fastentag beginnt früh, der Wecker läutet um 3.30 Uhr. Wasser trinken vor der Morgendämmerung. So viel nur geht. Der Tag wird heiß. Dazu ein leichter früher Imbiss, etwas Obst und Joghurt, ein Glas Orangensaft. Bis um kurz nach vier, bis zum ersten Anzeichen der Morgendämmerung. Begleitet wird der morgendliche Fastenbeginn von den Stimmen der Muezzine. Einer nach dem anderen beginnen sie ihre Rufe. Ein Klangteppich aus Männerstimmen legt sich sanft über die Stadt. "Allahu akbar", rufen sie, Gott ist groß. Und "beten ist besser als schlafen".

Doch verschlafen sehen die Straßen dann den ganzen Tag aus. Wer nicht zur Arbeit muss, bleibt im Bett oder zumindest im Haus. Die Welt ist eine verkehrte. "Unser Autosalon hat auch im Ramadan für Sie geöffnet", informiert eine große Automarke ihre Kunden, "besuchen Sie unseren Showroom Montag bis Freitag von 21.00 bis 23.30 Uhr."

Während das Geschäft in vielen Bereichen stagniert oder gar zum Erliegen kommt, bringt der Ramadan für die Lebensmittelindustrie in vielen Sparten ein Umsatzplus. "Wir machen im Fastenmonat mehr Gewinn als sonst", erzählt etwa Brahim, der Bäcker, der zu dieser Zeit einen Angestellten mehr hat. Sein Geschäft in der Innenstadt öffnet er erst mittags, Brot verkauft er so gut wie keines. Dafür sind seine Regale voll mit Croissants, Schokoschnecken, kleinen Pizzas und diversen Mandel- und Obsttörtchen. Den ganzen Tag vor den gefüllten Blechen zu sitzen und zu fasten ist kein Problem für Brahim. "Ich kann auch außerhalb des Ramadan nicht ständig Kuchen oder Törtchen essen, da sähe ich anders aus", scherzt er. Brahims Nachbar, der ein kleines Café betreibt, hat den ganzen Monat geschlossen. Er nutzt - wie viele seiner Kollegen - das laue Geschäft, um ausgiebig Urlaub bei seiner Familie auf dem Land zu machen.

Gemeinsam ohne Wasser

Bei Gluthitze sogar auf Wasser zu verzichten scheint Nicht-Muslimen schier unmöglich. Und doch ist es einfacher als man denkt, zeigt der Selbstversuch. Der Schlüssel sitzt im Kopf und wird unterstützt durch eine enorme Solidarität unter den Muslimen, die mitunter in fast kindlichem kollektivem Wetteifer gipfelt. "Ramadan karim" - gegenseitige Glückwünsche für ein gutes Fasten hört man an jeder Ecke und jeder Ladentheke. Und tatsächlich: Zu wissen, dass es Millionen Menschen genau so geht, stärkt den Willen zum Durchhalten. Man ist nicht allein mit seinem Durst. Und schon am zweiten Tag hat der Körper die neuen Regeln zur Nahrungsaufnahme weitgehend akzeptiert.

Dass der Ramadan derzeit in den Sommer fällt, macht es für Muslime in der arabischen Welt ebenso schwierig wie in Europa, wo die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang enorm lang ist. Viele Fastende in Europa orientieren sich daher an den Fastenzeiten in ihrer Heimat. Muslime in Skandinavien etwa hätten sonst ein schweres Los. Ein paar Ramadane im Sommer (heuer bis 20. August) wird es jedoch noch geben. Das Fasten setzt jedes Jahr zehn Tage früher ein, da das Mondjahr, nach dem sich der islamische Kalender richtet, zehn Tage kürzer ist als das Sonnenjahr.

"Fasten soll nur, wer seine Gesundheit damit nicht gefährdet", erklärt die Krankenschwester Fatima. Die Entscheidung darüber liegt alleine beim Einzelnen. Die Klinik, in der Fatima arbeitet, ist auch während des Ramadan geöffnet. Schwangere und stillende Frauen, Kinder und Kranke sind vom Fasten ausgenommen, erklärt sie. Auch menstruierende Frauen. "Doch sie müssen die ausgesetzten Tage binnen eines Jahres nachholen."

Gerade im Sommer sieht Fatima immer wieder Menschen, die die eigenen Kräfte überschätzt oder den Rat ihres Arztes ignoriert haben und nach Kreislaufzusammenbrüchen eingeliefert werden. Oft sind ihnen der Ehrgeiz und ein übertriebenes Ehrgefühl, am Folgetag wieder zu fasten, kaum auszureden, erzählt die Krankenschwester: "Dabei ist es ebenso Gebot, das Fasten zu unterbrechen, wenn es der Gesundheit schadet." Ihre eigenen drei Kinder fasten noch nicht alle, der erste Ramadan ist der nach der Geschlechtsreife. Fatimas 14-jähriger Sohn ist heuer erstmals dabei. Und das mit vollem Eifer, erzählt sie, mit vor Stolz geschwellter Brust, nun ein Mann zu sein.

Je näher das Fastenbrechen rückt, desto geschäftiger wird das Leben auf der Straße. Die Stadt erwacht langsam aus ihrem Schlaf. Cafés öffnen nach und nach, Straßenverkäufer bieten live gepressten Orangensaft in Wasserflaschen an, Dattelverkäufer säumen die Straßen. Aus den Häusern weht der Geruch von Gebratenem und Gebackenem. Die Mienen der Menschen hellen sich auf, die Sonne ist nicht mehr ganz so stechend, eine kühle Abendbrise macht sich zögerlich bemerkbar.

Auf Fasten folgt oft Völlerei

Fastenbrechen ist absolute Familiensache. Halb acht Uhr abends, noch hell, aber die Sonne ist am Horizont versunken. Geschafft. Dieses erste Glas kalten Wassers ist eines der köstlichsten der Welt. Was auf diesen kühlen Tropfen folgt, ist "Leftor" - Frühstück. Eröffnet ist es mit dem ersten Ruf des Muezzin zum Abendgebet, unterstützt von den Feuersirenen der Stadt. Der Tisch ist prall gefüllt. Es gibt traditionelle Harira, eine Tomatensuppe mit Linsen, Kichererbsen und Fleisch, dazu allerlei gebratene Teigtaschen und Fisch, süße Sesamkringel, Tortilla, gefüllte Paprika, gekochte Eier und kleine Küchlein, die vor Honig triefen. Langsam essen fällt da nur am ersten Tag schwer.

"Beim Fasten geht es um Demut und Dankbarkeit", hat der Bäcker Brahim es zusammengefasst. "Wer den ganzen Tag ohne Essen und Trinken auskommt, der kann wieder mehr schätzen, was er sonst für selbstverständlich hält. Und es wird ihm leichter fallen, andere zu unterstützen, die es nicht so gut haben." Dass das abendliche Essen bei vielen in Völlerei umschlägt, bezeichnet er als "leider verbreitetes Phänomen. Sinn des Fastens ist es aber natürlich nicht. Doch so mancher Bruder bringt nach dem Ramadan mehr auf die Waage als zuvor."

Nach dem sogenannten Frühstück und einer Tasse Minztee geht es in die Moschee. Eine Stunde Gebet. Danach wird die Nacht auch schon wieder kurz, doch vor allem die Jugend nützt sie, so gut sie kann, und macht die kurze Nacht zum langen Tag. Die Flaniermeile am Strand ist bis spät nachts stark frequentiert, die Terrassen der Cafés sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Nicht nur Kinder spielen in den Straßen Fußball. Das Mineralwasser fließt in Strömen. Zu Hause wartet bei vielen traditionellen Familien dann noch ein zünftiges Abendessen, das meist zwischen elf Uhr und Mitternacht gegessen wird. Bei Familien der jüngeren Generationen wie Fatima und Brahim gibt es nur noch frisch gepresste Säfte oder Joghurt. Und danach kurzen Schlaf. Bis um 3.30 Uhr wieder der Wecker läutet.

Die Sommerzeit wird in Marokko für die Zeit des Ramadan ausgesetzt. Eine Stunde länger Tageslicht will hier momentan niemand.