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Der Krampf um "Mein Kampf"

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Eine kommentierte kritische Ausgabe von Adolf Hitlers Buch ist in Vorbereitung und erhitzt die Gemüter.


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Jedes Antiquariat hat eine Giftecke. Dort lagern die Bücher, um die sich der Antiquar nicht bemüht, damit er sie in sein Sortiment bekommt. Es sind Bücher, die ihm zuwachsen, wenn er private Sammlungen als Ganze kauft. Diese Bücher sind der Beifang, sozusagen die Quallen im Heringsnetz. Meist ist es einschlägige NS-Literatur, oder es sind Bücher aus öffentlichen Bibliotheken, die seinerzeit mit einer Flut von Hakenkreuzstempeln versehen wurden und damit heute praktisch unverkäuflich sind. Unter diesen Büchern ist bisweilen auch Adolf Hitlers "Mein Kampf".

Irgendwann gegen Ende dieses Jahres oder Anfang des nächsten wird der Interessierte dann nicht mehr den Antiquar unter Versicherung des rein historischen Interesses zu jenem Giftschrank bitten müssen. "Mein Kampf" wird dann nämlich wieder in den Buchhandlungen aufliegen. Ganz regulär, herausgegeben vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. Rund 2000 Seiten wird die zweibändige Ausgabe umfassen, 780 Seiten davon Hitler im ungekürzten und unbearbeiteten originalen Wortlaut, der Rest Kommentar, der damit knapp zwei Drittel des Buchs ausmachen wird.

Die Schutzfrist endet

Der Umfang des Kommentars sollte auch die Auslieferung in Österreich ermöglichen, denn da hieß es schon vor einigen Jahren, seitens des Justizministeriums, die Neuauflage von "Mein Kampf" stelle dann keinen strafrechtlich relevanten Tatbestand dar, wenn das Buch "ausreichend wissenschaftlich ergänzt und die Kommentare Hitlers widerlegt" seien.

Rechtlich scheint die angepeilte Neuausgabe abgesichert: Im heurigen Jahr endet die Schutzfrist, mit welcher der Freistaat Bayern die deutschsprachige Welt vor der Wiederveröffentlichung behütete: 1945 tötete sich Hitler im Bunker in Berlin. Da der Diktator bis zu seinem Tod am Prinzregentenplatz 16 in München gemeldet war, wurde sein Vermögen nach Kriegsende vom Freistaat Bayern eingezogen. Zu dieser Hinterlassenschaft gehören die Nutzungsrechte an "Mein Kampf". Die jedem Autorenerben, auch dem Staat, zustehende Schutzfrist endet am 1. Jänner des auf den 70. Todestag folgenden Jahres. Im Fall von "Mein Kampf" ist das also der 1. Jänner 2016.

1979 hatte der deutsche Bundesgerichtshof entschieden, dass der Besitz und die Verbreitung des Buchs, zum Beispiel in Antiquariaten, nicht strafbar seien. Der Nachdruck wäre es indessen gewesen, denn er hätte die Nutzungsrechte des Freistaats Bayern verletzt - und dieser ließ Nachdrucke nun einmal nicht zu.

Nun aber fällt diese Schutzfrist weg. Das bayerische Finanzministerium vertritt dabei nach wie vor die Auffassung, dass eine neue Ausgabe von "Mein Kampf" nach dem 1. Jänner 2016 zwar keine Urheberrechtsverletzung mehr darstellt, wohl aber die Gesetze gegen die Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda und jene gegen Volksverhetzung bricht. (Wieso angesichts dessen Antiquare das Buch vertreiben dürfen, müsste wohl erst ausjudiziert werden.) Für eine unkommentierte oder nur alibihaft kommentierte Ausgabe gilt das zweifellos - doch auch für eine Ausgabe, in welcher der Kommentar deutlich länger ist als der Primärtext und diesem sein hetzerisches Potenzial nachweist?

Damit stehen wir auf schwankenden Balken im Meer der Moral. Denn jedes Argument für eine Veröffentlichung trifft auf eines dagegen und umgekehrt.

Eine klare Ablehnung kommt von Überlebenden der Schoah und ihren Nachkommen. So schrieb die "Jerusalem Post" am 25. Februar: "Die Nachricht von der Neuauflage des Buchs hat Überlebende des Holocaust verstört, die sagen, Hitlers Werk neuerlich zu publizieren würde riskieren, seine Gedanken endlos weiterzuführen." Und spuckt das Münchner Institut für Zeitgeschichte nicht auf die Gräber der Schoah-Opfer und ihrer Nachkommen, wenn es den Text ihres Folterknechts und Mörders veröffentlicht?

Doch wie stichhaltig sind diese Argumente im Licht der von den modernen kostengünstigen Möglichkeiten der Vervielfältigung, dem Internet und der Globalisierung auch des Buchhandels geschaffenen Tatsachen?

"Mein Kampf" ist nämlich keineswegs weltweit verboten oder auf eine Weise geächtet, dass kein Buchhändler etwas damit zu tun haben will. Sowohl der britische als auch der US-amerikanische Zweig des marktführenden Internet-Anbieters Amazon bieten "My Battle" sowohl in der vom Übersetzer Edgar Dugdale schon seinerzeit (1933) gekürzten Version an als auch in einer ungekürzten englischsprachigen Übersetzung. Beim ungekürzten deutschsprachigen Original hat man mehrere Wahlmöglichkeiten. Auch der französische Amazon-Zweig bietet "Mein Kampf" im ungekürzten deutschsprachigen Original an, französische Übersetzungen allerdings gibt’s nur antiquarisch, sie sind selten und kostspielig.

Weltweit gehandelt

Kostengünstig sind hingegen die Ausgaben als E-Book, noch kostengünstiger sind Internet-Seiten, die "Mein Kampf" kostenlos zum Download anbieten. Es sind nicht wenige. Meine Suche nach einer kompletten deutschsprachigen "Mein Kampf"-Version dauerte gerade einmal 30 Sekunden - und lieferte die englische Übersetzung James Murphys gleich mit.

"Mein Kampf" existiert im Internet und auf Papier in Französisch, Russisch, Italienisch und in skandinavischen Sprachen. In vielen arabischen Ländern ist der "neue Koran des Glaubens und des Krieges: schwülstig, langatmig, formlos, aber schwanger mit seiner Botschaft", wie der britische Premierminister Winston Churchill das Buch nannte, geradezu ein Bestseller. In Kairo liegt "Mein Kampf" laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" vom 12. April 2013 auf Büchertischen neben Biografien des ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser, religiösen Unterweisungen, Betrachtungen zum Sturz Mubaraks und den antisemitischen "Protokollen der Weisen von Zion". In der Türkei kam es gar zu einem Wettlauf der Verlage: Ende 2004 wetteiferten gleich 15 von ihnen, wer "Kavgam" am billigsten und damit kundenfreundlichsten herausbringt. Wer will, kann "Mein Kampf" lesen. Nicht eine kritische Neuausgabe, sondern unkritische Nachdrucke und das Internet sind es, die Hitlers Botschaft unreflektiert prolongieren.

Am meisten spricht für die Neuveröffentlichung aber, dass durch sie die Bibel des Bösen entzaubert wird. "Mein Kampf" ist nicht infektiös. Es ist keine Literatur, die in ekstatischer Prosa den Leser in einen nazistischen Rausch versetzt. Im Gegenteil: Der unbeholfene Stil ist gespickt mit Gemeinplätzen und grotesk überzogenem Pathos. Das Buch ist ein Konglomerat aus Biografie und politischem Bekenntnis, Beobachtung der sozialen Zustände, Wirtschaftstraktat und rassistischer Tirade. Es ist wirr, unsagbar langweilig und wegen der permanenten stilistischen Fehlleistungen nahezu unlesbar.

Wenn das österreichische Magazin "profil" es 2012 "das böseste Buch der Welt" nannte, so verdient es sich zweifellos einen weiteren Superlativ: Es ist mit Sicherheit auch eines der schlechtesten Bücher der Welt. Hitlers Ungeist verdammt sich in seinen eigenen hilflosen Worten. In seiner Selbstdarstellung wird der Dämon zur Lachnummer.

Bloß: Darf man über Hitler
lachen? - Charles Chaplin beantwortete die Frage in seinem Film "Der Große Diktator" mit einem klaren Ja. Viele, unter ande-
rem der begnadete deutsche Cartoonist Walter Moers, sind ihm gefolgt.

Stinken die Einnahmen?

Selbst das Argument, das mit der Neuausgabe erwirtschaftete Geld würde stinken, lässt sich entkräften: Dass diese durch den wissenschaftlichen Apparat gebrochene "Mein Kampf"-Ausgabe zum Bestseller wird, ist unwahrscheinlich, und die Einnahmen rechtfertigen sich gerade auch durch die Kosten für den Kommentar.

Wird das Buch wider Erwarten doch zum Bestseller, so sagt indessen auch das nichts aus: Wenn der neue Stephen King zum Bestseller wird, heißt das noch lange nicht, dass die Gesellschaft zu einer Horde dämonenbesessener Methodistenprediger geworden ist. Alles hat seine Zeit - auch ein Buch. Die von Hitlers "Mein Kampf" ist im deutschsprachigen Raum längst abgelaufen. Historisches Interesse an Buchleichen ist statthaft.