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Der kranke Mann am Kontinent

Von Walter Hämmerle

Politik

Explodierendes Budgetdefizit, darniederliegendes Wirtschaftswachstum, streikende Gewerkschaften, hohe Arbeitslosigkeit: Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich Deutschland - einst Konjunkturlokomotive für ganz Europa - zum sprichwörtlichen "kranken Mann am Kontinent". Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" analysiert der deutsche Politologe Oskar W. Gabriel die deutsche Situation vor einem gesamteuropäischen Hintergrund.


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"Europas Sozialstaaten stehen alle vor den gleichen Problemen mit lediglich graduellen Unterschieden", erklärt Gabriel, Institutsvorstand an der Universität Stuttgart, der auf Einladung der Politischen Akademie in Wien weilte. Die besondere Situation Deutschlands zeichnet sich für ihn durch zwei Charakteristika aus: Eine extrem niedrige Geburtenrate von 1,34 Kindern pro Frau (Österreich kommt sogar nur auf 1,32, der EU-Schnitt liegt bei 1,53) sowie die nach wie vor extreme finanzielle Mehrbelastung als Folge der Wiedervereinigung.

Das deutsche Dilemma ist für Gabriel darüber hinaus durch eine veritable Vertrauenskrise in die politische Führung gekennzeichnet. Vertrauen sei jedoch ein wichtiges psychologisches Element für einen Aufschwung. Verursacht wurde diese Vertrauenskrise nicht zuletzt durch den Zick-Zack-Kurs der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder in der Steuerpolitik und der Gesundheitsreform. Die Probleme entstanden jedoch keineswegs über Nacht: Seit rund 25 Jahren seien die Investitionen in die Infrastruktur - Verkehr, Bildung, Soziales - sträflich vernachlässigt worden. Statt für die Zukunft vorzubauen, wurden Schulden für die Finanzierung sozialer Besitzstände angehäuft.

Für bezeichnend hält Gabriel, dass die Reformbereitschaft der Bürger mittlerweile schon fast größer ist als jene der Interessensvertreter und Lobbyisten. Dazu passt, dass sich wichtige Akteure wie etwa die Gewerkschaften in so genannte "Ideologen" und "Pragmatiker" gespalten haben. Zu ersteren zählt Gabriel die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die IG Metall. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sieht er keinerlei Anzeichen für einen substanziellen wirtschaftlichen Aufschwung in absehbarer Zukunft.

Als eine der Hauptursachen für die gegenwärtigen Probleme Deutschlands beim Umstieg von einer industriellen auf eine postindustrielle Gesellschaft identifiziert der angesehene Politologe die lange etatistische Tradition des Landes: "Die Leute müssen erst wieder lernen, Eigeninitiative zu entwickeln."

Wie diese Probleme in den verschiedenen EU-Staaten gelöst werden, hängt für Gabriel von drei Faktoren ab: Vom zur Verfügung stehenden finanziellen Spielraum, der Fähigkeit der regierenden Politiker zu unpopulären, aber notwendigen Entscheidungen sowie der jeweiligen sozialstaatlichen Tradition. Auch in der Verlagerung der Probleme von der nationalen auf die EU-Ebene sieht er keine Lösung: "Die Entscheidungen der EU haben noch ein demokratisches Akzeptanzproblem." Sollte etwa die EU eine schmerzhafte Pensionsreform beschließen, würde dies lediglich populistischen Bewegungen neuen Aufschwung geben, ist Gabriel überzeugt.