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Der kranke Mann und das Meer

Von Alexander von der Decken

Reflexionen

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Von Depressionen und Verfolgungswahn gequält, unfähig sein künstlerisches Niveau zu halten, erschoss sich vor 50 Jahren, am 2. Juli 1961, der amerikanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway in seinem Haus in Ketchum. Es war das Ende eines Leidensweges, der in der Kindheit begann, ihn auf den Gipfel seiner künstlerischen Schaffenskraft führte und am Ende dessen beraubte, was sein Leben ausmachte: das Schreiben.

Inszeniertes Leben

Seit seinem Tod treibt der Hemingway-Kult prächtige Blüten. Experten und Freunde - selbsternannte wie wirkliche - verfassten Biographien, die sich zumeist dadurch auszeichnen, dass einer die Fehler des anderen übernommen hat. Die Liste der Weggefährten ist lang und reicht von Jeffrey Meyers, Carlos Baker, von dem Vertrauten und Leibarzt Hemingways, Dr. Roberto Herrera Sotolongo, Norberto Fuentes, Anthony Burgess über Gertrude Stein bis hin zur spanischen Hemingway-Autorität, Jose Luis Castillo-Puche. Sie alle treiben im Kielwasser des Titanen unter den Biographen, Carlos Baker, der das Leben Hemingways facettenreich dokumentiert hat - allerdings mit gravierenden Fehlern. Erst Kenneth S. Lynn wischte mit seinem 800-Seiten-Werk "Hemingway - Eine Biographie" (1992) viele Mythen vom Tisch, die der Meister der Short-Story dort akribisch angehäuft hatte. Was bleibt, ist das Bild eines kranken Mannes, den von Kindheit an Todesängste quälten.

Das würdigste Geschenk zum Todestag dieses herausragenden Autors ist, ihn von seinem klebrigen Mythos zu befreien. Hemingway hat sein Leben inszeniert. Er war der Papa, der Übermacho, der damit protzte, dass er potenzhemmende Mittel nehmen müsse. So schrieb er anlässlich seines 50. Geburtstags 1949 an den Verleger Charles Scribner, dass er zur Feier des Tages "dreimal gebumst", sechs "sehr schnelle Tauben" im Klub geschossen und mit Freunden eine "Kiste Piper Heidsick Brut" geköpft habe. Doch hinter dieser Fassade verbarg sich ein Mann, der den Kult um seine Person auf subtilste Weise inszenierte, um die dunklen Seelenschatten zu verbergen. So ist immer von Hemingways Italien-Erlebnissen während des Ersten Weltkrieges als der Initialzündung für das schriftstellerische Wirken die Rede. Doch weit gefehlt. Hemingways Rolle in Fossalta di Piave an der Dolomitenfront hatte theaterreife Züge und war der Auftakt zu dem Stück "Hemingway, die tragische Figur".

Der Soldaten-Mythos

Der Autor sah sich gern als Soldat. Doch er war nie einer. Auf Grund eines Sehfehlers und der Intervention seiner Eltern konnte er sich nicht von den regulären US-Streitkräften einziehen lassen. Hemingway rückte 1918 als Rot-Kreuz-Helfer ein, der die reguläre Offiziersuniform der US-Army tragen durfte - nicht mehr. Seine Aufgabe bestand darin, Schokolade und andere Bedarfsgegenstände zur Truppe zu bringen.

Aus solchen Botengängen erwachsen keine Helden. Das wusste Hemingway- und tat etwas dagegen. Am 8. Juli 1918 kam es zu jenem Zwischenfall, den der junge Kriegsteilnehmer schamlos ausschlachtete. Er wurde von einer Maschinengewehrsalve getroffen. Mit großem Heldenmut rettete er noch einen verwundeten Kameraden, bevor er ins Lazarett gebracht wurde. So zumindest stand es in dem Schreiben zur silbernen Tapferkeitsmedaille, die er von der italienischen Regierung überreicht bekam.

"Schwer verwundet" - das waren die Worte, aus denen sich Heldentaten schmieden ließen. Kenneth S. Lynn wies dem Verletzten nach, dass er sich fast mehr Maschinengewehrgeschosse ins Bein gedichtet hat, als an der Front verschossen worden waren. Damit nicht genug. Seinem Freund Ted Brumback tischte Hemingway eine Geschichte auf, die regelrecht in Blut schwamm. Derart gewürzt, entwickelten die Kriegserlebnisse eine Eigendynamik, die sie zur saftigen Veteranen-Anekdote macht, denn Brumback glorifizierte die Taten seines Freundes und dichtete ihm gleich noch ein paar Geschosse mehr ins Bein. Mehr als 200 Stück sollen es gewesen sein.

Wie ein Fabelwesen

Was dann in Amerika als Bericht über den tapferen "Hem" ankam, war ein Heldenepos. Entsprechend wurde der Kriegsheld in der Heimat erwartet, und er erfüllte die Erwartungen. Gehüllt in einen maßgeschneiderten Umhang, gekleidet in eine schöne Uniform und gestützt auf einen Stock, verließ der Held die "Giuseppe Verdi" in Manhattan. Er wirkte wie ein Fabelwesen aus einer anderen Welt und badete in der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Nicht die Geschosse im Bein waren der Anlass für das Schreiben, sondern der Laufpass, den ihm die amerikanische Krankenschwester Agnes von Kurowsky in Italien gegeben hatte. Sie hatte den Verwundeten im Spital betreut - und ihm darüber hinaus wohl auch noch ein wenig mehr Freude bereitet. Doch als Hemingway sie heiraten wollte, wandte sie sich einem adeligen italienischen Offizier zu und entließ den Kriegshelden in die eintönige US-Heimat. Das war zu viel für den Schlachtgestählten, in welchem der Hass aufloderte. Sein Werk "A Farewell To Arms" ("In einem andern Land", 1929) ist denn auch die schonungslose Abrechnung mit der Ex-Geliebten.

Agnes war der Anlass, aber nicht der Antrieb fürs Schreiben. Der lag tiefer, und zwar in dem Verhältnis Hemingways zu seiner Mutter. Castillo-Puche erwähnt die Angst des Autors, nachts das Licht auszumachen. Die Gründe hierfür sieht der Biograph in einem ängstlichen und wankelmütigen Wesen. Es stimmt, dass Hemingway Angst vor der Dunkelheit hatte. Er selbst behauptete, dass dies die Folge seiner Kriegserlebnisse war. Sein vermeintliches Todeserlebnis, das er während der Verletzung hatte, sollte als Beweis dienen. Hemingway schildert, wie seine Seele aus ihm aufstieg, wie er seinen Körper verließ, erst langsam und dann immer schneller. Dieses Szenario sollte seine Angst vor der Dunkelheit erklären. Doch es war nur eine geschickte Tarnung. Hemingway quälten von Kindheit an Todesängste, die seine Mutter ausgelöst hatte.

Grace Hall war eine Suffragette der erdrückend dominanten Art. Sie hatte unter ihrem jüngeren Bruder Leicester gelitten, der wegen seines Geschlechts bevorzugt wurde. Diese Erfahrungen hatten ihren Hass auf alles Männliche geschürt. Als Kleinkind durfte Hemingway bei ihr schlafen, sich an sie schmiegen. Diese enge Bindung wurde von Grace jedoch regelmäßig unterbrochen. So kleidete sie Hemingway und dessen ältere Schwester Marcelline immer gleich- als Jungen oder als Mädchen. Einmal trug Ernest Kleider und Haarschleife, dann wieder Hemd und Hose. Dem Rollenwechsel wurden auch die Spielzeuge angepasst - sogar in Form und Farbe. Grace versteckte Hemingways Männlichkeit - und ermunterte sie zugleich.

Dieses permanente Wechselspiel verunsicherte den Jungen in seinem rollenspezifischen Geschlechtsverhalten - bis hin zur Angst vor der Wandelbarkeit seiner Person. In ihm entstanden Todesahnungen, die sich zur Todesangst steigerten. Sie waren die Ursache seiner Schlafstörungen - und nicht die Fronterlebnisse.

Dass Hemingway sich seiner Seelenqualen bewusst war, ist belegt. In einer Passage aus "Müde bin ich, geh zur Ruh" geistert die Mutter in der Erzählung eines jungen amerikanischen Leutnants zerstörerisch in der männliche Sexualität herum. In der Passage erinnert sich ein Soldat während der Kriegserlebnisse in Italien an seine Kindheit. Er erlebt noch einmal, wie seine Mutter lachend alle Sachen verbrennt, die seinem Vater lieb und wichtig waren. Und der große Mann mit der Hakennase und den Augen eines Adler, der schießen konnte wie kein anderer, setzte sich gegen die Frau nicht zur Wehr.

Schikanen der Mutter

Die Personenzuordnung in dieser Erinnerung des Soldaten ist unschwer zu erraten. Grace Hall verzieh es ihrem Mann nie, dass sie eine vermeintliche Karriere als Sängerin für die Familie opfern musste. Doch der Grund für den Verzicht lag woanders. Hemingways Mutter hätte trotz einer beachtlichen Stimme nie Karriere machen können, weil ihre Augen das gleißende Bühnenlicht nicht vertrugen und der helle Schein sofort unerträgliche Kopfschmerzen bei ihr auslöste. So schikanierte sie ihren schwachen Ehemann vor den Augen des Sohnes, wo und wann immer es ging. Sie rief ihn sogar während seiner Arztbesuche an, um ihm mitzuteilen, was er zum Mittagessen zu kochen habe. Und er gehorchte.

Das Tragische für Hemingway war, dass sein Vater ihm aus dieser Situation keinen Ausweg vorleben konnte. Stattdessen schoss er sich 1928 eine Kugel in den Kopf. Grace Hall schickte ihrem Sohn den Revolver, mit dem sein Vater sich getötet hatte, und legte dem Paket noch ein wenig Schokolade bei. Von dem "feigen Akt" seines Vaters, mit dem jener vor seiner Frau kapituliert hatte, erholte sich Hemingway nie. Seine Mutter war für ihn nur noch eine "bitch" (Hexe).

Angekündigter Suizid

Hemingway entwickelte ein zwanghaftes Interesse für Kopfverletzungen. Etliche fügte er sich selbst zu. So versuchte er bei einem Flugzeugabsturz in Afrika, die klemmende Tür der Maschine mit dem Kopf aufzustoßen. Bei einem Selbstmordversuch am Ende seines Lebens ging er auf den laufenden Propeller eines Flugzeuges zu, der jedoch im letzten Moment zum Stillstand kam. Und Freunden zeigte er, wie er sich eines Tages umbringen werde: Gewehrlauf in den Mund und abdrücken!

Hemingways Verwirrung in der Kindheit muss derart groß gewesen sein, dass er selbst innerhalb der Familie nicht mehr die Kon-trolle über sein sexuelles Rollenverhalten hatte. Der Biograph Lynn deutet in seinem Buch inzestuöse Beziehungen zu Hem’s Lieblingsschwester Ursula an. So erzählt Hemingway in "Das letzte gute Land" (einer der "Nick Adams Stories") die Liebesgeschichte von dem Indianermädchen Littles und Nick Adams. Lynn weist Ursula die Rolle von Littles zu. Auch Hemingways Schwester beging Selbstmord - ebenso wie sein Bruder Leicester (und später sein Sohn Gregory und seine Enkelin Margot alias Margaux Hemingway).

Ein anderer Beleg für die sexuelle Verwirrung Hemingways ist das postum erschienene Buch "Der Garten Eden" (1986). Schon die Entstehungsgeschichte dieses Werkes ist interessant. Hemingway brachte es nie zu Ende, weil er sich mit dem Thema vermutlich verhoben hatte. In dem Buch versucht er eine Selbstanalyse. Bereits 1933 hatte Gertrude Stein in ihrer "Autobiographie der Alice B.Toklas" geschrieben, was für eine Geschichte der wirkliche Hemingway erst abgeben würde. Stein hatte schon damals in der Pariser Zeit des Autors, als die "Lost Generation" sich in der Rue de Fleurus 27 traf, geahnt, dass sich hinter der Fassade dieses kraftstrotzenden Mannes eine Geschichte verberge, die er sich nicht zu schreiben traue.

"Der Garten Eden" ist die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen David Bourne, Catherine, seiner Frau, und Marita, seiner Geliebten. Die Rollenverteilung in dem Stück ist klar: David, das ist Hemingway, Catherine, das ist seine erste Frau Hadley Richardson, und Marita, das ist Pauline Pfeiffer, die seine zweite Frau werden sollte. Catherine verstört David mit der Tatsache, dass sie sich die Haare zu einem Bubischopf schneiden lässt und als Mann geliebt werden will, und Marita ist die Inkarnation des Sündenfalls, indem sie sich als vermeintlich beste Freundin Catherines daran macht, sich deren Ehemann zu angeln. Hemingway schafft es nicht, diese Geschichte zu beenden, weil er nicht weiß, aus welchem Blickwinkel er sie erzählen soll.

Falscher "Eden"-Schluss

Willi Winkler schrieb in einem "Zeit"-Artikel vom 25. März 1988 ("Hemingway oder: Wer hat Angst im Garten Eden?"), dass der Autor versuche, sich seiner Mutter, die in der Rolle der Ehefrau Catherine präsent ist, wieder anzunähern. Nach dem Sündenfall mit Marita kommt es in dem "vorläufigen Schluss" des Buches zur Versöhnung mit Catherine, der "bitch": Die Mutter hat ihren Sohn also endgültig unterworfen.

Diesen Schluss bekommt der Leser des Buches jedoch nicht zu sehen. Der Grund ist einfach. Die rund tausend Manuskriptseiten aus dem Nachlass wurden auf 248 eingekürzt. Verantwortlich hierfür ist der bekennende Hemingway-Nichtfachmann und "Esquire"-Redakteur Tom Jenks. Mit großem Federstrich kürzte er die "Seelenqualen" Hemingways ein. So kommt es im "Garten Eden" auch zu einem anderen Schluss: Hemingway lebt glücklich mit seiner Geliebten Marita zusammen. Jenks dürfte sich bei der "Begradigung" an der Realität orientiert haben, in der Hemingway und Pauline Pfeiffer auch zueinander fanden. Trotz all der Streichungen erschlägt den Leser immer noch die autobiographische Wucht dieses Werkes.

Hemingways Todesängste wurden immer monströser. Der Stierkampf bot ihm die Möglichkeit, seine Obsessionen zu zügeln und sie zugleich zur Literatur zu erheben, ohne dass die Öffentlichkeit etwas von seinem Seelenzustand bemerkte.

Zutiefst unpolitisch

Trotz aller Hinweise auf Hemingways labilen Zustand gab und gibt es Autoren, die ihn für einen politischen Schriftsteller vom Schlage John Dos Passos’ halten: Hemingway, der mit der Feder in der Hand für die republikanische Sache im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte; Hemingway, der für die US-Arbeiterschaft das Wort erhob; Hemingway, der den Faschisten auf dem europäischen Kontinent die Stirn bot. Zu den Verfechtern dieser Auffassung gehören der Kubaner Norberto Fuentes ebenso wie der ehemalige DDR-Autor Wolfgang Hartwig.

Doch Hemingway war zutiefst unpolitisch, wie Anthony Burgess und auch andere Biographen belegen. Hemingway hatte die iberische Halbinsel seit den zwanziger Jahren bereist, ohne nur ansatzweise die politische Situation in dem Land zu reflektieren - was auch für seine Wahlheimat Kuba gilt. Die Parteinahme für die Republikaner im Bürgerkriegskonflikt war ein instinktiver Akt. Da er nur die Seite des Schwächeren kannte, in der sein Vater ihn zurückgelassen hatte, ergriff er zwangsläufig Partei für sie. Der Krieg bot ihm den Handlungsrahmen für Geschichten wie "Wem die Stunde schlägt", "Die fünfte Kolonne" oder "Der Abend vor der Schlacht". Es waren keine politischen Überzeugungen, sondern verzweifelte Akte der Selbstanalyse, die Hemingway antrieben.

Norman Mailer hat 1962 gemutmaßt, dass Hemingway wohl ein solches Unmaß an Angst mit sich herumgeschleppt habe, wie es jeden Anderen schon früher erdrückt hätte. Hemingways Leistung besteht darin, dass er solange im Ring gegen seine Mutter durchgehalten hatte, bevor er am 2. Juli 1961 denselben "feigen Akt" vollzog, den sein Vater vor ihm begangen hatte.

Alexander von der Decken ist Journalist beim "Weser Kurier" in Bremen und hat sich viele Jahre intensiv mit dem Werk von Ernest Hemingway beschäftigt.