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Der Krebs wächst

Von Ronald Schönhuber

Politik

In ganz Europa nehmen antisemitische Übergriffe sprunghaft zu.


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Kopenhagen/Paris. Die jüdische Gemeinde in Dänemark ist klein. Mit knapp 7000 Mitgliedern liegt sie nicht nur nach absoluten Zahlen, sondern auch in relativer Hinsicht weiter hinter Ländern wie Frankreich oder Großbritannien, wo Juden zwischen einem halben und einem Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Ob der 22-jährige Omar Abdel Hamid el-Hussein, der am Wochenende bei einer Diskussionsveranstaltung und vor einer Synagoge in Kopenhagen zwei Menschen getötet hat, jemals persönlich mit dem jüdischen Leben in Dänemark in Berührung gekommen ist, ist allein schon angesichts der Kleinheit der Gemeinde fraglich. Laut den bisherigen Ermittlungsergebnissen scheint der junge Mann, der als Sohn palästinensischer Eltern in Dänemark geboren wurde, vor allem auf Israel und dessen Gaza-Politik wütend gewesen zu sein. Der Anschlag auf die französische Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und einen koscheren Supermarkt in Paris vor fünf Wochen könnte laut dänischen Geheimdienstkreisen dann die Inspiration und den letzten Impuls für den jetzigen Anschlag geliefert haben. "Er hatte keine Angst, offen zu sagen, dass er Juden hasse", wird ein Freund des Attentäters von der Zeitung "Politiken" zitiert.

Keine Angst, den eigenen Antisemitismus offen zur Schau zu stellen, haben mittlerweile viele in Europa. Vor allem in Frankreich, das mit 500.000 Menschen die größte jüdische Gemeinde auf dem Kontinent beherbergt, vergeht kaum ein Monat ohne Übergriffe auf Juden und ihren Alltag. Mit 851 antisemitischen Taten gab es 2014 knapp doppelt so viele Vorfälle wie im Jahr zuvor und die Täter schrecken vor immer weniger zurück. Bei den körperlichen Übergriffen wurde binnen Jahresfrist sogar eine Zunahme von 140 Prozent registriert, wobei sowohl die alten wie auch die neuen Motive des Judenhasses durchscheinen. So wurde Ende 2014 ein jüdisches Paar in einem Pariser Vorort von vermummten und bewaffneten Männern bewusst tyrannisiert und ausgeraubt, weil Juden angeblich reich seien. Die Frau wurde anschließend brutal vergewaltigt.

Die Antwort des offiziellen Frankreichs auf den "Horror von Creteil" war die gleiche wie bei ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit: Politiker rufen das Land händeringend auf, sich vereint dem Antisemitismus entgegenzustellen - es müsse ein "Ruck" durch die Nation gehen, um dem "Krebs unserer Gesellschaft" beizukommen. Gleichzeitig versprechen die Exekutivbehörden, alles zu unternehmen, um Juden und jüdische Einrichtungen zu schützen. Selbst das französische Militär ist mittlerweile großflächig im Einsatz.

Gaza als Triebfeder

Der Anstieg antisemitischer Straftaten ist allerdings kein französisches Phänomen. Auch in Großbritannien, das die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Europa beherbergt, hat es von auf 2013 auf 2014 eine Verdoppelung der Übergriffe gegeben, ebenso in Österreich, wo im Vorjahr 255 Fälle gemeldet wurden.

Der Anstieg der Übergriffe fällt zeitlich zusammen mit Israels Gaza-Krieg im Sommer 2014, der vor allem Muslime empört hat. Die Bilder von Tod und Verderben der Palästinenser gelten dementsprechend auch als eine der Triebkräfte für antisemitische Attacken. Nicht selten sind Synagogen das Ziel von Gewalt bei propalästinensischen Kundgebungen. Der französische Großrabbiner Haim Korsia sah bei solchen Aktionen im Land auch islamische Hassprediger als Antreiber. Andere vermuteten Extremisten von rechts und links am Werk, die mit Islamisten gemeinsame Sache gegen Juden machen.

Doch wie können die jüdischen Gemeinden mit diesem existenziellen Dilemma umgehen? Oder wie es Kommentator der israelischen Zeitung "Haaretz" am Montag formulierte: "Kann man in einer Realität der ständigen Bedrohung weiter ein offenes und freies jüdisches Leben führen?" Die Antwort einer zunehmenden Zahl von Juden lautet offenbar "Nein". Allein in Frankreich verließen 2014 mehr als 6000 Juden die Heimat in Richtung Israel. Damit war die Grande Nation erstmals jenes Land, aus dem die meisten Juden emigrierten. Bestärkt wurden sie dabei auch von Israels Premier Benjamin Netanyahu, der europäische Juden nach fast jedem größeren Zwischenfall zur Auswanderung aufgerufen hatte.

Allerdings hat sich Netanyahu mit seinen Appellen in Europa nicht unbedingt Freunde gemacht. "Die französischen Juden gehören nach Frankreich", sagte Regierungschef Manuel Valls am Montag. Ins selbe Horn stieß die deutsche Kanzlerin. "Wir sind froh und auch dankbar, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt", sagte Merkel.

Fest steht aber jedenfalls, dass dieses Leben in den meisten Ländern - darunter auch Österreich - nur noch unter noch einmal verschärften Sicherheitsvorkehrungen stattfinden wird. Vor dem Hintergrund der Terrorgefahren in ganz Europa gebe es auch Drohungen gegen die jüdische Gemeinde, hatte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, zuletzt betont. Für die jüdischen Gemeinden in Österreich gelte daher ein "stark erhöhtes Sicherheitsgebot". Europas Politiker müssten "dringendst" gegen den Terrorismus und den wachsenden Antisemitismus speziell von islamischer Seite vorgehen.Seite27