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Der Kreml schlägt zurück

Von Ines Scholz

Europaarchiv

Präsident Putin nimmt Oppositionsführer ins Visier.|Nawalny und Udalzow werden verhört, neues Versammlungsgesetz in Kraft.


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Moskau. Wladimir Putin scheint entschlossen, den seit Monaten anhaltenden Massendemonstrationen gegen ihn ein Ende zu setzen. Am Freitag hatte der Präsident in aller Eile ein Gesetz unterzeichnet, das die Versammlungsfreiheit weiter einschränkt. Es trat damit gerade noch rechtzeitig vor der für heute, Dienstag, anmeldeten Anti-Putin-Kundgebung in Kraft. Mit etwa 50.000 Teilnehmern an dem Protestmarsch durch das Moskauer Zentrum wird gerechnet.

Die wichtigsten Oppositionsführer allerdings werden fehlen: Just kurz vor Demonstrationsbeginn wurden der bekannte Blogger Alexej Nawalny und der Anführer der Linksfront, Sergej Udalzow, zum Verhör vorgeladen. Gegen sie und rund ein Dutzend weiterer Symbolfiguren des Widerstands gegen das autokratische Regime ermittelt seit Montag die Justiz. Der Vorwurf: Anstiftung zu Massenkrawallen und Gewalt gegen die Staatsmacht beim "Marsch der Millionen" am 6. Mai, bei dem es erstmals zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen war, nachdem diese eine bereits genehmigte Route plötzlich gesperrt hatte.

Am gestrigen Morgen führten Polizeikräfte die ersten Razzien durch. "Toll, sie durchsuchen meine Wohnung, meine Tür wurde fast zersägt", twitterte Nawalny um 8.35 Ortszeit. "Auch die CDs mit den Fotos von meinen Kindern nehmen sie mit", ließ er die Internet-Gemeinschaft in Echtzeit an dem Ereignis teilnehmen. "Grüße an 1937", schrieb ein Sympathisant in Anlehnung an Stalins große Säuerungswelle zurück.

Ungewollten Besuch bekamen auch Udalzow, der Initiator der Unterschriftenkampagne "Putin muss gehen", Ilja Jaschin, Ex-Vizepremier Boris Nemzow, der allerdings nicht zu Hause war, weshalb die Polizeikräfte unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten - sowie Ksenia Sotschak. Die TV-Moderatorin, die lange nur die Klatschspalten der Boulevard-Presse füllte, hatte zuletzt mehrfach offen Putins Politik kritisiert und an Oppositionskundgebungen teilgenommen - allerdings nicht an dem fraglichen 6. Mai. Dass die Ermittler in ihrer Wohnung deshalb Beweismaterial für eine koordinierte Gewaltaktion suchen, mutet absurd an. Ebenso wenig begründeten die Ermittlungsbehörden, warum erst sechs Wochen später ein Dutzend Wohnungen durchsucht wurden.

Gefährlicher Warnruf

Der bekannte Bürgerrechtler Lew Ponomarjow hatte die Antwort: Die Razzien am Vortag der Kundgebung seien Teil einer Einschüchterungskampagne. "Sie wollen die Leute provozieren." Dadurch solle die friedliche Aktion außer Kontrolle geraten, kritisierte der Menschenrechtsaktivist und Mitunterzeichner des Manifests "Putin muss gehen", der 2009 Opfer eines politisch motivierten Anschlags wurde und regelmäßig Morddrohungen erhält.

Für die Speerspitze der Oppositionsbewegung sind die Razzien dennoch ein ernst zu nehmendes Warnsignal. Wie von vielen erwartet hat Putin nach seiner Rückkehr in dem Kreml Anfang Mai nun die Jagdsaison eröffnet. Der Ruf nach einem politischen Wandel soll verstummen. Den Anführern der Demokratiebewegung und Organisatoren der "Millionenmärsche" drohen im Falle einer Verurteilung durch die Justiz - und die ist Putins Russland einzig eine Frage des politischen Willens - immerhin mehrjährige Haftstrafen. Das Schicksal des 2003 zu 13 Jahren Haft verurteilten Oppositionsfinanzierers und Ex-Jukos-Chefs Michail Chodorkowski schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Land.

Auf das Abwürgen der Oppositionsbewegung zielt neben den Razzien und Verhaftungen auch das verschärfte Versammlungsrecht ab, das viele Rechtsexperten in Russland als eindeutig verfassungswidrig bezeichnen. Wer an einer nicht genehmigten Kundgebung teilnimmt, Anweisungen der Sicherheitskräfte missachtet oder die öffentliche Sicherheit oder den Straßenverkehr stört, muss demnach künftig drei durchschnittliche Jahresgehälter an den Staat hinblättern - knapp 7000 Euro oder 300.000 Rubel, das 150-Fache des bisherigen Strafbetrags; Organisatoren sogar 23.000 Euro. "Immerhin - die Oligarchen können demonstrieren", spöttelte ein Blogger auf Livejournal.ru. Der Ex-KGBler Putin findet hingegen nichts Anrüchiges an seinem Gesetz: Es diene dem Schutz russischer Bürger, verteidigte der 59-Jährige es stolz.