Eine neue Generation an Europas Spitze muss plötzlich Geschichte schreiben.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Erinnert sich noch jemand an die Klage darüber, dass die gegenwärtigen Politiker und Politikerinnen, all die Macrons, Scholzens, von der Leyens, Michels, Baerbocks und Co, nicht aus jenem Holz geschnitzt seien, das es brauche, um Historisches zu schaffen?
Die EU entstand auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, errichtet von Vordenkern und Staatsmännern, die um dessen Ursachen und Folgen wussten. Auf die Gründer folgte eine Generation, deren Jugend ebenfalls von Entbehrungen geprägt war und die im Amt das Ende des Kalten Kriegs und die Nord- und Osterweiterung der Union bewerkstelligte. Auch an den Kohls, Delors, Thatchers und Gorbatschows wurden die Nachfolger gewogen - und für zu leicht befunden.
Jetzt ist wieder Krieg, und es überschlagen sich die Ereignisse. Die massiven Sanktionspakete gegen Russland und sein Regime haben eine Kettenreaktion ausgelöst, die Europa nachhaltig verändern wird.
Wie die Generation, die 1989 und seinen Folgen gegenüberstand, hat sich die aktuelle Führungsgeneration nicht ausgesucht, an einer möglicherweise historischen Schwelle (mit Sicherheit lässt sich das erst im Rückblick feststellen) an der Spitze zu stehen, sondern wurde von den Ereignissen überrascht. Die Kunst dabei ist es, von diesen nicht überrollt zu werden.
Auch hier ist es für ein endgültiges Urteil zu früh. Der Beginn der russischen Invasion liegt erst sechs Tage zurück. Doch schon jetzt erfüllt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der als Witzfigur begonnen hat, die Sehnsucht nach einem Helden. Möglicherweise schrecken die Spitzenpolitiker in den nationalen Hauptstädten und in Brüssel demnächst vor den Folgen eines Bruchs mit Russland zurück, vor der massiven Ausweitung der Sicherheits- und Verteidigungsausgaben, vor den ausgreifenden Flurschäden der Sanktionen im eigenen Haus, vor der Herkules-Aufgabe einer Annäherung, geschweige denn Aufnahme der Ukraine in die EU.
Noch ist nicht ausgeschlossen, dass die Spitzen Europa die Angst vor dem eigenen Mut befällt. Doch für den Moment kann der von Erfahrungen mit weltpolitischen Krisen weitgehend unbeleckten Führungsgeneration in Europa - und im innenpolitisch gebeutelten Kanzleramt Österreichs - attestiert werden, dass sie gewillt ist, der historischen Herausforderung durch entschlossenes Handeln gerecht zu werden. Das ist umso bemerkenswerter, als das heutige Europa weitaus vielfältiger und widersprüchlicher in seiner Kultur und seinen historischen Erfahrungen ist, als es sowohl in den 1950er als auch Ende 1980er je war.