Paramilitärs, Extremisten und ausländische Milizen kämpfen in Ost-Aleppo um die Kontrolle. Die Zivilbevölkerung wird zerrieben.
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Aleppo/Wien. Die Nachricht auf den Flugblättern ist eindeutig: "Wer diesen Teil der Stadt nicht verlässt, wird ausgelöscht." Abgeworfen wurden sie von Helikoptern des syrischen Regimes über dem Osten Aleppos. "Seht es ein! Es gibt niemanden, der euch noch helfen wird," heißt es weiter - Worte, die wie Bomben einschlagen. Jene Menschen, die in diesem Stadtteil ausharren - zwischen 100.000 und 200.000 dürften es noch sein -, sind einem gnadenlosen Psychokrieg ausgesetzt. Vor allem aber sind sie wehrlose Opfer einer schon seit Wochen dauernden militärischen Großoffensive. Lediglich zwanzig Quadratkilometer halten die Rebellen noch in der Stadt. Stündlich verlieren sie an Boden.
Am 15. November starteten die Verbündeten des syrischen Regimes ihre sogenannte "Befreiungsaktion". Um Syrien geht es dabei aber längst nur noch am Rande. Die Kämpfer am Boden sind nur zu einem geringen Teil Soldaten der syrischen Armee unter Befehl Bashar al-Assads. Es sind vorwiegend Mitglieder schiitischen Milizen aus dem Iran, dem Irak und Pakistan, die Seite an Seite mit paramilitärischen Einheiten des Assad-Regimes die Einnahme Ost-Aleppos in die Hand genommen haben. Flankiert von der russischen Luftwaffe, halten sie in erster Linie für die Regionalmacht Iran die Stellung.
Täglich 1500 Granateinschläge
Doch auch die andere Seite der Front besteht überwiegend aus Extremisten und vom Ausland finanzierten Gruppen: Die Türkei und Saudi-Arabien geben hier den Ton an. Dabei spielen al-Kaida-nahe Gruppen wie Jabhat Fatah al-Sham, Ahrar al-Sham eine gewichtige Rolle. Die Freie Syrische Armee gewann zwar dank der Verlagerung der türkischen Unterstützung zuletzt an Gewicht. Aber auch die Widersacher Assads spielen im siebten Kriegsjahr noch eine Nebenrolle.
Gnadenlos wird der Machtkampf zwischen den regionalen Playern auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen: 800 Menschen sind zuletzt in Ost-Aleppo gestorben, 2000 wurden verletzt. Der Krieg kostete bisher einer halben Million Menschen das Leben. Die unvorstellbare Brutalität, die dabei zutage tritt, wird auch die Effizienz des internationalen Systems, die Gültigkeit des Völkerrechts, langfristig infrage stellen: Niemand scheint in der Lage, die Situation in Aleppo in den Griff zu bekommen.
Der Geruch von Blut und Verwesung liegt über den umkämpfen Straßenzügen, in denen sich apokalyptische Szenen zutragen, wie Augenzeugen der "Wiener Zeitung" berichten. "Die Straßen sind voll von Toten und Schwerverletzten", sagt Ebu Ammar, einer der wenigen oppositionellen Aktivisten, der noch Kontakt mit der Außenwelt hält.
Bis zu 150 Luftschläge, 1500 Granateinschläge werden täglich gezählt. Die verbliebenen Rettungskräfte haben keinen Treibstoff mehr, um Verwundete zu den provisorischen Ambulanzen zu bringen. Doch die sieben Krankenhäuser sind längst in Schutt und Asche gebombt. "Jeder Verwundete ist todgeweiht", sagt Zakaria Amino, stellvertretender Führer des lokalen Rates von Aleppo. Wie in dutzenden anderen von der Opposition kontrollierten Gebieten, wird in Ost-Aleppo die Verwaltung von frei gewählten Räten übernommen. Wenig dringt über diese politischen Ansätze eines neuen Syriens in die Öffentlichkeit. Der Krieg überschattet alles. In Aleppo ist die Hauptaufgabe des lokalen Rates dazu ohnehin auf die Verwaltung des Untergangs geschrumpft.
Selbst zu Fuß ist es zu gefährlich geworden, zu den Toten zu gelangen. Hastig werden Leichensäcke über sie geworfen. Nur nachts können eilige Begräbnisse gelingen. Die Friedhöfe sind längst voll. Tote werden, wenn möglich, in Parks oder Gärten bestattet. Von den letzten Lebensmittelreserven ist lediglich verdorbenes Brot übrig, ein wenig Olivenöl. Erste Hungertote werden gemeldet. Doch das ist schwer zu verifizieren. Bis vor wenigen Wochen war es möglich, über soziale Medien Kontakt zu den umkämpften Gebieten zu halten. Doch nun sind die letzten Generatoren verstummt, die Stadt versinkt in Dunkelheit.
Erstmals seit dem Sommer sind die Checkpoints um Ost-Aleppo passierbar. Bis zu 30.000 Menschen sind nun aus dieser Hölle geflohen: zum Großteil in den vom Regime kontrollierten Westen der Stadt, wo zwei Millionen Menschen leben. Doch die Angst flieht mit: Gerüchte von sofortigen Verhaftungen kursieren. Die verbliebenen Rebellen schwören Zivilisten mit Durchhalteparolen ein und hindern sie mitunter an der Flucht.
"Der Tod soll drohen"
Laut Vereinten Nationen führte die Eskalation in der ehemaligen Wirtschaftsmetropole zur schwersten humanitären Katastrophe unserer Zeit. Gnadenlos führt sie die Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft, allen voran der UNO, vor Augen. Ihre Spitzendiplomaten können dem Wahnsinn in Aleppo lediglich flammende Reden entgegenhalten. "Die Taktik gegen den Osten der Stadt ist offensichtlich", warnt UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien: "Das Leben der verbliebenen Bevölkerung wird unerträglich gemacht. Der Tod soll drohen, durch Verhungern und Bombenhagel."