Aus aktuellem Anlass einige Überlegungen über das Verhältnis von Politik und Moral.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Über die Schwierigkeiten, ein Heiliger in der sündigen Stadt zu sein, mussten nicht erst Bruce Springsteen und die E-Street Band einen formidablen Song schreiben. Die unvermeidliche Kluft zwischen Sollen und Sein war schon vorher allgemein bekannt. Und das gilt auch für die im Lied "It’s Hard to Be a Saint in the City" besungene ästethische Inszenierung des in Versuchung lebenenden Ich-Erzählers: "I could walk like Brando right into the sun, then dance just like a Casanova." Ähnlichkeiten mit aktuellen Spitzenpolitikern sind natürlich voll beabsichtigt.
Ob das jetzt aber eine Anspielung auf die Eitelkeiten von Christian Kern, von Sebastian Kurz, Heinz-Christian Strache oder doch Peter Pilz ist, entscheidet jeder Leser ohnehin für sich. In den allermeisten Fällen überzeugen die Überredungsversuche der Kommentatoren und Analytiker ohnehin nur die bereits Gläubigen. Wirkliche Bekehrungen sind im politischen Bereich genau so selten wie im religiösen.
Das wissen natürlich auch die Wahlkampfstrategen der Parteien, die zugekauften und die eigenen. Deshalb geht es ihnen nicht darum, möglichst viele Konvertiten zu produzieren, sondern das Maximum an Enttäuschten, Abgestoßenen und Frustrierten in den gegnerischen Lagern abzuholen.
Und Moral ist zu diesem Zweck das mit Abstand wirkungsvollste Mittel. Weil über Themen und Inhalte zu streiten nur wirklich funktioniert, wenn die Parteien ihre jeweiligen Positionen auch moralisch aufladen. Nur über diesen Weg können die eigenen Anhänger und Lautsprecher mit der notwendigen emotionalen Energie versorgt werden, die es im tagtäglichen politischen Kleinkrieg benötigt.
"Politik der Gefühle" lautet der Österreich-Essay aus dem Jahr 1987 von Josef Haslinger, der die fatale Dominanz von Stimmungen und Emotionen beklagt. Heute wissen wir, dass eine Politik ohne Gefühle leblos bleibt und die Menschen nicht mehr anzusprechen vermag. Wahrscheinlich war das auch früher nicht anders, es fällt uns nur heute deutlicher auf. Auch weil sich längst auch alle Formen der medialen Textproduktion dieser für die Parteien notwendige Emotionalisierung zu eigenen Geschäftszwecken zunutze machen. Damit aber droht eine Über-Moralisierung dessen, was man früher einmal abwertend Parteien-Hickhack genannt hat. Das hat damals keinen wirklich interessiert, jetzt aber seit die Moral im Spiel ist, werden daraus unablässig Schlagzeilen gezimmert.
Lässt sich diese Dynamik wieder einfangen, ja womöglich sogar zurückdrehen? Zu befürchten ist: eher nicht.
Die Parteien haben ihren politischen Spielraum verloren. Gar nicht so sehr wegen europäischer Regelungen und den Zwängen der Globalisierung. Viel entscheidender ist, dass die große Mehrheit der Bürger für radikale Kursänderungen in die eine oder andere Richtung zurückschreckt. Und falls einmal doch nicht, stehen verlässlich unzählige andere Hürden im Weg. Die Parteien stehen also mit weitgehend leeren Händen da. Alles, was ihnen geblieben ist, ist die Behauptung, wenigstens noch die höhere Moral zu besitzen. Doch die Anzahl ihrer Gläubigen wird immer kleiner.