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Der Krieg, der irgendwie passierte

Von Walter Hämmerle

Politik

Europa trägt bis heute schwer an den Folgen des Ersten Weltkriegs, ist der Politologe Herfried Münkler überzeugt.


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"Wiener Zeitung": Die wortgewaltigste, wahrscheinlich auch wirkmächtigste Reaktion aus Österreich auf den Ersten Weltkrieg ist wohl Karl Kraus’ "Die letzten Tage der Menschheit", eine "Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog", die der Autor zwischen 1915 und 1922 verfasste. Wie bewerten Sie das Stück und seine Folgen?Herfried Münkler: Unmittelbar nach dem Krieg herrscht in den Ländern, die den Krieg verloren haben, eine grunddepressive Stimmung: Man spürt, was man alles verloren hat. Dazu mischt sich dann noch ein teils unbändiger Zorn über diejenigen, die für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden. Diese beiden Grundstimmungen, also Depression und Zorn, halten sich in Österreich länger als etwa in Deutschland, wo ab Ende der 1920er Jahre eine Literatur des heroischen Nationalismus aufkommt.

Etwas Vergleichbares hat es in Österreich nicht gegeben, hier haben sich die Literaten, aber auch die Historiker, mit einer Mischung aus Melancholie und zynischer Distanz mit dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust eines multiethnischen und multikonfessionellen Imperiums auseinandergesetzt, das von seiner Konzeption her so etwas wie die Alternative zum klassischen Nationalstaat war. So gesehen stehen "Die letzten Tage der Menschheit" für das Ende einer Ordnung, die so nicht wiederkehren würde. Stefan Zweig hat das mit "Die Welt von gestern" ebenfalls thematisiert. Mit diesem ganz besonderen Zugang unterscheidet sich die Aufarbeitung in Österreich markant von jener in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien.

Wie bewerten Sie Karl Kraus als Analytiker seiner Zeit?

Kraus analysiert das Geschehen, dramatisiert und überzeichnet Ereignisse und formuliert in weiten Teilen auch eine politische Abrechnung. Das alles ist jedoch miteinander verbunden und lässt sich schwer voneinander trennen.

Deutschland und Österreich-Ungarn waren Bündnispartner schon vor Ausbruch des Krieges. Welches Verhältnis hatten die beiden ungleichen Partner und wie veränderte sich dieses?

Es war schon relativ früh eine Partnerschaft des Ungleichgewichts. Deutschland konnte zu Anfang des 20. Jahrhunderts vor Kraft kaum gehen, war wirtschaftlich unglaublich dynamisch und auch politisch aufstrebend; auf der anderen Seite stand Österreich-Ungarn, das spätestens mit dem Ausgleich 1867 ein Stück weit zur politischen Fehlgeburt wurde; es scheiterte daran, die internen Nationalitätenkonflikte zu regeln. Ganz generell machte sich eine fatalistische Weltuntergangsstimmung breit. Gleichzeitig war die Allianz aufgrund historisch-kultureller Verbindungen und im Hinblick auf die politische Konstellation naheliegend.

Gedämpft wurde das Ungleichgewicht lediglich dadurch, dass Kaiser Wilhelm II. und der Thronfolger Franz Ferdinand erstaunlich gut miteinander konnten. Mit Ausbruch des Weltkriegs treten dann die Unterschiede wieder in den Vordergrund, etwa beim Aufbau der Armeen. Es gib auch keine vernünftige Koordination der Kriegsführung zwischen Wien und Berlin.

Kamen diese Unterschiede vor allem in Sachen Effizienz für die Verantwortungsträger überraschend?

In puncto Effizienz wahrscheinlich schon, ja. In Berlin hatte man offensichtlich keine rechte Vorstellung davon, dass ein multiethnisches Reich nicht jene nationale Begeisterung auszulösen imstande war wie ein Nationalstaat. Teilweise gab es auch Loyalitätsprobleme, etwa bei den Tschechen. Entscheidender waren aber die fehlenden Absprachen, die fehlende Koordination. Der deutsche Generalstab war vollauf mit der Westfront beschäftigt, während Österreich-Ungarn von der Schnelligkeit der Russen überrascht wurde.

Die Folgen waren verheerende Niederlagen mit dem Ergebnis, dass die reguläre k.u.k. Armee bereits im Winter 1914/15 praktisch nicht mehr existierte und im Wesentlichen auf ein Milizheer zurückgegriffen werden musste. In Österreich beginnen daraufhin die Klagen, dass man von den Deutschen im Stich gelassen würde, während die Deutschen den Österreichern mangelnde Kriegstüchtigkeit unterstellten. Ab da vergiftet Misstrauen das Verhältnis der Bündnispartner, wobei man aber nicht übersehen sollte, dass dieses Gefühl auch zwischen den Entente-Mächten grassierte.

War Österreich-Ungarn der Klotz am Bein der Deutschen?

Es war auf jeden Fall der Kriegsgrund. Ohne all die Verwicklungen auf dem Balkan wäre es wohl nicht zum Krieg gekommen. Und aus Sicht des deutschen Generalstabs war Österreich-Ungarn nicht der Partner, den man gebraucht hätte; es war nicht einmal der Partner, mit dem man gerechnet hatte.

Bei der Frage der Kriegsschuld verweigern Sie eine einfache Antwort und machen eine Vielzahl an Missverständnissen und Fehlkalkulationen, vor allem aber die Bündnispolitik verantwortlich. Welche Rolle spielt das Haus Habsburg?

Der alte Kaiser war sicher pflichtbewusst, hatte aber Probleme, wenn es um die Abschätzung der Folgen weitreichender Entscheidungen ging. Und Franz Ferdinand, Thronfolger und Kopf der Reformpartei - Friedenspartei wäre zu viel gesagt -, wurde Opfer des Attentats. Damit waren die Gegner der Kriegspartei ohne Anführer, die Befürworter eines Krieges um Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf hatten weitgehend freie Hand.

<p class="em_text">Herfried Münkler, geboren1951, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Sein jüngstes Buch "Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918" (Rowohlt) ist derzeit in aller Munde.

Kaiser Franz Joseph wollte sicher den Krieg, allerdings einen beschränkten Krieg mit Serbien, allenfalls einen dritten Balkan-Krieg, nicht jedoch den großen europäischen Krieg. Dasselbe trifft auf die Kriegsbefürworter um Conrad zu, die sich von einem Waffengang eine Revitalisierung des Reichs und eine Bestätigung als Großmacht versprachen. Ein großer Krieg, das mussten auch die Befürworter einer überschaubaren Auseinandersetzung wissen, trug das Risiko in sich, dass eine Niederlage gleichbedeutend mit dem Ende des Reichs wäre. Auch hier herrschte also eine Mischung aus Illusionen, Fehlkalkulationen und schlichten Fehlern vor. Der Begriff der Schuld ist für mich nach hundert Jahren keine sinnvolle Kategorie mehr.

Wenn nicht das Attentat von Sarajevo, hätte dann ein anderer Funken einen großen europäischen Krieg ausgelöst? War er überfällig aufgrund der aufgestauten Spannungen zwischen den Mächten?

Meine These lautet: Nein. Die Geschichtsforschung war lange Zeit überzeugt, dass dieser Krieg überdeterminiert gewesen sei, also kommen musste. Die Tatsache, dass wir den Kalten Krieg ohne Krieg überlebt haben, ist aber Beleg dafür, dass bestehende Spannungen nicht zwangsläufig zur Entladung führen. Ein 20. Jahrhundert ohne großen Krieg in Europa wäre nicht von vornherein unmöglich gewesen.

Ihr Argument mit dem Kalten Krieg hat einen Haken: Die Furcht vor der gegenseitigen nuklearen Auslöschung hat wesentlich dazu beigetragen, dass keine Krise eskalierte. Weder 1914 noch 1939 existierte eine solche apokalyptische Drohung, die zur Selbstbeschränkung zwang.

Die klugen Leute wussten auch ohne die Existenz der Atombombe von der Zerstörungsgewalt eines modernen Krieges. Für die Linken war das etwa Friedrich Engels, der die Zahl der Toten auf zwölf Millionen schätzte und prognostizierte, dass die Kronen auf den Straßen rollen würden und sich keiner finden werde, um sie aufzuheben. Das ist eine brillante Antizipation der Ereignisse von 1918. Und es wussten auch die Liberalen und Konservativen, dass ein Krieg in Europa zum verheerenden Erschöpfungskrieg werden würde. Sogar den Generalstäben war klar, dass sie keinen Erschöpfungskrieg führen konnten, deshalb planten sie alle Offensivkriege, die mit einer schnellen Entscheidungsschlacht enden sollten. Wenn es aber tatsächlich die Atombombe sein sollte, die dauerhaften Frieden sichert, dann sollten wir tunlichst mit allen Bemühungen aufhören, die Welt zu denuklearisieren.

Wie hat der Erste Weltkrieg Mitteleuropa verändert? Mit dem Habsburger- und dem Osmanischen Reich sind hier zwei multiethnische Ordnungsmächte weggefallen.

Dieser Krieg besteht ja aus mehreren Kriegen: die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich um die Hegemonie im Zentrum Europas, dann die globale Dimension aufgrund des britischen Empires, und analytisch ist es ein Kräftemessen der multiethnischen Imperien, also Österreich-Ungarns, des Osmanischen und des Zaren-Reichs, mit den Nationalstaaten, das die Imperien verlieren, egal, auf welcher Seite sie stehen. Mit den Folgen dieser Auseinandersetzung haben wir es in Mitteleuropa bis heute zu tun, während das Erbe des Zweiten Weltkriegs geopolitisch mit dem Zerfall des Sowjet-Imperiums 1991 abgearbeitet ist. Die hochgradig instabilen post-imperialen Regionen auf dem Balkan, im Kaukasus, jetzt auch der Ukraine, der gesamte Nahe Osten beschäftigen uns dagegen bis heute.

All das folgt aus dem Untergang dieser Reiche, und wir müssen heute nach Antworten suchen, wie wir diese Räume stabilisieren können. Die nationalstaatliche Lösungen nach 1918 und dann wieder nach 1989 waren ja nur ein Konzept, in dem eine der vielen Minderheiten zur Titularnation aufstieg; die anderen Minderheiten haben deshalb aber nicht aufgehört zu existieren, etwa nach 1918 die versprengten deutschen und ungarischen Minderheiten, aber auch viele andere.

Man kann also durchaus sagen, dass die Europäische Union der Versuch ist, die Ausgleichsmechanismen, wie sie weiland das Habsburger-Reich verkörperte, nach Mittel- und Südosteuropa zu exportieren. Brüssel funktioniert aus meiner Sicht eher als begrenzt demokratisierbares aber rechtsstaatliches Ordnungssystem und ist so gesehen dem Habsburger-Imperium durchaus vergleichbar. Grundsätzlich haben wir aber bis heute keine überzeugenden Lösungen für diese Regionen gefunden.

Was ist die historische Lektion aus den Ereignissen 1914-1918 für die Politik des 21. Jahrhunderts?

Man muss zwei Aspekte nennen: Erstens, im Zentrum Europas ist der Kampf zwischen Frankreich und Deutschland um die Hegemonie zu Ende. Stattdessen gibt es die deutsch-französische Achse - und solange diese funktioniert, wird auch Europa funktionieren trotz aller bestehen1der Probleme und Schwierigkeiten. Dann gibt es noch das Peripherieproblem, also den großen instabilen Raum, der sich vom Balkan über Moldawien und die Ukraine bis in den Kaukasus zieht und auch den Nahen Osten und Nordafrika umfasst. Die große Verwundbarkeit Europa im 21. Jahrhundert wird nicht sein, dass Panzerverbände über unsere Grenzen rollen, sondern Flüchtlingsströme, weil sie unsere Sozialsysteme und unser ethisches Selbstbild treffen. Deshalb müssen wir politisch, ökonomisch und mittels Finanztransfers in die Stabilität dieser Räume investieren. Das wird einiges kosten.