Washington - Abgeschnittene Zungen, ausgestochene Augen, öffentliche Vergewaltigungen: George W. Bushs Berichte über mutmaßliche Gräueltaten im Irak werden immer drastischer. Unermüdlich beschimpft der US-Präsident das Regime in Bagdad als "mörderisch", "grausam" und "brutal". Im Bemühen, die öffentliche Meinung im In- und Ausland zu beeinflussen, fährt er immer härtere verbale Geschütze auf.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Nach Ansicht von Experten steht dahinter der zunehmende Druck, angesichts der steigenden Zahl amerikanischer Opfer den Krieg noch zu rechtfertigen.
Vor wenigen Tagen berichtete Bush: "Wir haben gestern Berichte über einen Dissidenten gehört, dem die Zunge herausgeschnitten und der auf einem öffentlichen Platz an einen Pfosten gefesselt wurde. Er ist verblutet. So hält sich Saddam Hussein an der Macht." Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erzählte dieselbe Geschichte wenig später vor Journalisten in Washington. Weder er noch Bush machten genauere Angaben dazu.
Ein Geheimdienstmitarbeiter erklärte, es habe "glaubhafte Berichte" über das Schicksal des Dissidenten gegeben. Politikwissenschaftler verwundert diese Quelle der Information nicht: "Ohne Zweifel wird er (Bush) von seinen Geheimdienstbehörden mit einer drastischen Anekdote nach der anderen versorgt", sagt Larry Sabato von der University of Virginia. "Er verfügt über jede Menge Material."
In einer seiner jüngsten Radioansprachen erklärte Bush: "Wir wissen von Menschenrechtsgruppen, dass Dissidenten im Irak gefoltert und verhaftet werden, manchmal verschwinden sie auch einfach. Ihre Hände, Füße und Zungen werden abgeschnitten, ihre Augen ausgestochen, und weibliche Verwandte werden in ihrer Gegenwart vergewaltigt." Auch die Familie von Staatschef Saddam Hussein griff der US-Präsident an: "Seine Söhne sind brutale, brutale Menschen."
In Friedenszeiten könnte sich Bush nach Ansicht von Kommunikationsforschern einen solchen Krieg der Worte kaum erlauben. In Zeiten des Kriegs genössen Staats- und Regierungschefs in dieser Hinsicht jedoch größerer Freiheit, meint Kathleen Hall Jamieson vom Annenberg-Zentrum für Politikwissenschaft an der Universität von Pennsylvania. "Bush will den Eindruck wieder beleben, dass Saddam böse ist. Das ist besonders wichtig, wenn das Land Verluste erleidet".
Ziel von Bushs drastischen Beschreibungen ist es nach Überzeugung von Jamieson zum einen, die amerikanische Öffentlichkeit hinter seinem Kriegskurs zu halten. Zum anderen wolle er sich jedoch auch für die Zeit nach dem Krieg schützen. "Wenn man einen Teil des Bodens unter den Füßen verliert, muss man rechtzeitig für neuen Halt sorgen", sagt die Forscherin. "Wenn dieser Krieg zu dem Ergebnis führt, dass es keine Hinweise auf Massenvernichtungswaffen gibt, wird das Argument immer noch stehen, dass dies ein Mensch war, der sein eigenes Volk gefoltert hat."
Einige Geschichten über angebliche Gräueltaten haben sich in der Vergangenheit jedoch schon als falsch erwiesen. Als sich die USA Anfang der 90er Jahre auf ihren ersten Krieg gegen Irak vorbereiteten, sorgte die Aussage eines kuwaitischen Mädchens vor dem US-Kongress für Entsetzen. Sie erklärte, in ihrer Heimat würden irakische Soldaten Säuglinge aus Brutkästen reißen und dem Tod überlassen. Die Darstellung ging rasch in die Regierungskampagne ein, mit der der damalige US-Präsident George Bush um öffentliche Unterstützung für den Krieg warb. Erst nach dem Krieg stellten sich die Behauptungen als unwahr heraus, und die Identität der Zeugin wurde bekannt: Sie war die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA.
Bushs Sprecher Ari Fleischer versicherte, Bushs Berichte über Gräueltaten dienten nicht Propagandazwecken. Der Präsident unterrichte die Öffentlichkeit bereits seit Monaten über die Gewalt im Irak.
Stephen Hess von der Washingtoner Brookings Institution sieht das etwas anders. Hinter einem Teil der verbalen Kriegsführung stehe einfach "Bush, wie er leibt und lebt". Außerdem sei dem Präsidenten daran gelegen, dass die Amerikaner die Argumente für den Krieg stets vor Augen hätten.