Beim Brüsseler Krisengipfel hat der britische Premierminister Tony Blair nach einhelliger Ansicht der Medien seines Landes die Interessen Londons nachdrücklich vertreten. Dabei sei er vielleicht etwas unbeholfen aufgetreten, meinte die "Financial Times", und habe sich die Arbeit als EU-Ratspräsident in der zweiten Jahreshälfte erschwert.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Für den britischen Drahtseilakt mit dem selbst gesteckten Ziel, Großbritannien im Herzen Europas anzusiedeln, wird er Partner gewinnen müssen. Die wird er sicher nicht bei jenen finden, die nach den Worten seines Außenministers Jack Straw "in der Vergangenheit stecken geblieben sind".
"Er sieht sich nach wie vor als der gute Europäer, und er möchte auch so gesehen werden", betonte "The Observer" am Sonntag. Aber sein missionarisch wirkender Eifer, Europa zum Blick in die Welt und zur Begegnung mit den Problemen unserer Zeit zu drängen, wird schwer zu verwirklichen sein. "Es wäre naiv, rasch eine radikale Reform der gemeinsamen Agrarpolitik zu erwarten", meinte das Sonntagsblatt. In den nächsten sechs Monaten sei kaum damit zu rechnen.
Der turnusmäßige EU-Vorsitz bietet Blair nach Ansicht der "Sunday Times" dennoch eine Chance, die noch kein britischer Regierungschef nach dem Zweiten Weltkrieg hatte: "Er kann Europa zu einem neuen Rahmenwerk für den Handel führen und zu einer begrenzten Anzahl politischer Institutionen, die zu seiner Überwachung erforderlich sind." Über die von anderen EU-Nationen diskutierte Vertiefung der Union wird in den britischen Medien kaum gesprochen.
Dafür aber taucht in allen Kommentaren der Hinweis auf, dass dieses - nach britischer Ansicht - "Europa der Vergangenheit" sieben Mal mehr für Agrarsubventionen ausgebe als für Forschung, Erneuerung und Bildung. Nach Blairs Ansicht müssen sich die Bürger erst einmal solcher Ungleichgewichte und ihrer Folgen für die Auseinandersetzung Europas mit dem Rest der Welt bewusst werden.
Wie er sich die Umsetzung seiner Ideen in die Alltagsarbeit der Präsidentschaft vorstellt, will Blair in dieser Woche - am Montag bei der Routinedebatte im Londoner Unterhaus und am Donnerstag vor dem Europaparlament - andeuten. Die Haushaltsfrage steht dabei ganz oben an, gefolgt von der Klärung des Verfahrens für die EU-Verfassung und dem für Oktober geplanten Beginn der Verhandlungen zu dem von Blair befürworteten EU-Beitritt der Türkei sowie der Frage künftiger Erweiterungen (Bulgarien und Rumänien).
Blair hat noch in Brüssel erklärt, dass er bei anderen Regierungen Verbündete für seine Gedanken gefunden habe. Angeblich freuen sich die Diplomaten seiner Regierung bereits auf die anstehende Arbeit. Dass aber der Chef selbst die dafür benötigte Diplomatie aufbringt, wagen Blätter zu bezweifeln. Die "Sunday Times" schrieb gar skeptisch: "In der Vergangenheit hat Blair Krieg gemacht, aber keine Diplomatie. Weder in Washington noch in Brüssel (und von Paris ganz zu schweigen) hat er sich als Staatsmann gezeigt. ... Jetzt muss er sich als Diplomat erweisen, obwohl er es nicht ist."