In Spanien könnten die Rechtspopulisten um Santiago Abascal bei Neuwahlen am Sonntag zur drittstärksten Kraft werden.
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Santiago Abascal konnte sein Glück bestimmt selber kaum fassen. Niemand nahm ihn ins Kreuzverhör. Keine mahnenden Zeigefinger, keine empörten Einwände. Nicht einmal, als er die Gruppenvergewaltigungen junger Frauen direkt mit der illegalen Migration in Verbindung brachte. Auch wenn in den beiden aufsehenerregenden Fällen vor allem Spanier zu den Tätern gehört hatten.
Aber niemand widersprach Abascal bei der ersten Fernsehdebatte zwischen den Spitzenkandidaten der fünf größten Parteien in der Nacht auf Dienstag. Der Fokus lag für die Mitstreiter woanders.
Am Sonntag wählt Europas viertgrößte Volkswirtschaft zum zweiten Mal in diesem Jahr ein neues Parlament. Und der Chef der jungen rechtspopulistischen Vox-Partei konnte im TV-Studio ganz entspannt zuschauen, wie sich die Spitzenkandidaten der anderen Parteien gegenseitig zerfleischten.
Genüsslich kraulte er immer wieder seinen liebevoll gestutzten Hipster-Bart. Sein enger, figurbetonter blauer Anzug schien unbequemer zu sein als seine politischen Widersacher. Nur ein einziges Mal musste Abascal seinen Mann stehen. Als er Spaniens sozialistischen Ministerpräsidenten und Wahlfavoriten Pedro Sánchez (PSOE) wegen der umstrittenen Exhumierung des faschistischen Diktator Franco Ende Oktober der "Leichenschändung" beschuldigte und ihm vorwarf, die Spanier erneut gegeneinander aufwiegeln zu wollen, erhob Sánchez kurz die Stimme gegen ihn. Doch das war’s auch schon.
Dabei nahm die erst 2014 gegründete Vox zum ersten Mal an einer TV-Wahlkampfdebatte teil.
Die Strategie der anderen Parteien Abascal gegenüber war schnell durchschaut, zu offensichtlich. Sozialisten, Linke, vor allem aber die beiden konservativen Spitzenkandidaten versuchten den Rechtspopulisten zu ignorieren, wollten ihn ins politische Abseits stellen. Ging die Rechnung auf? "Nein. Ganz im Gegenteil: Abascal konnte dadurch genau das erreichen, was er wollte", meint die spanische Wahlforscherin María José Canel. "Abascal geht als einer der wenigen gestärkt aus der TV-Debatte heraus. Und das, ohne dafür viel gemacht zu haben", urteilt die Politologin der Madrider Complutense-Universität im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
"Er wollte seine politischen Botschaften senden, ohne laut werden zu müssen, ohne zu erschrecken. Sein Ziel war es, vor allem im rechtskonservativen Lager mit einer vehementen, aber nicht zu provokanten Art zu fischen. Das haben ihm die anderen Parteien überraschenderweise ermöglicht", meint Canel.
Überraschend, denn die neue Vox-Partei dürfte neben den Konservativen von Oppositionsführer Pablo Casado (PP) wie kaum eine andere Partei von den Neuwahlen profitieren. Darf man jüngsten Zeitungsumfragen vom Montag glauben, werden die Rechtspopulisten ihre bisher 24 Mandate im Parlament am kommenden Sonntag sogar auf bis zu 49 Sitze verdoppeln können. Mehr noch: Vox wird wahrscheinlich sogar drittstärkste Fraktion hinter den Sozialisten und Konservativen. Dabei zogen die Rechtspopulisten erst bei den vorangegangenen Wahlen im April zum ersten Mal ins Parlament ein.
Vox profitiert von der katalanischen Krise
Grund für den Vormarsch von Vox sind vor allem die seit Wochen anhaltenden Unruhen in der nach Unabhängigkeit strebenden Konfliktregion Katalonien. Vor drei Wochen wurden neun Separatistenführer zu saftigen Haftstrafen verurteilt, weil sie 2017 das illegale Unabhängigkeitsreferendum durchführen ließen. Und am Dienstag erließ der Obstere Gerichtshof internationale Haftbefehle gegen drei weitere Ex-Mitglieder der katalanischen Regionalregierung.
Auch in der Nacht zum Dienstag protestieren erneut tausende Separatisten in Barcelona lautstark gegen die Anwesenheit des spanischen Königs und von Kronprinzessin Leonor, die die nach ihr benannten Prinzessin-von-Girona Preise vergaben. "Katalonien hat keinen König", stellte Kataloniens separatistischer Regierungschef Quim Torra klar und blieb der Veranstaltung fern.
"Der Katalonien-Konflikt wühlt die Spanier derzeit auf wie nie zuvor. Selten war das Gefühl in der Bevölkerung so groß wie jetzt, dass die Einheit Spaniens und das friedliche Zusammenleben auf dem Spiel stehen", erklärt der spanische Politologe Pablo Simón. Ein nicht zu unterschätzendes Angstgefühl, das angesichts des sich in Spanien und ganz Europa anbahnenden Wirtschaftseinbruchs an Bedeutung gewinnt. "In dieser Situation punktet Vox mit ihrem nationalistischen, patriotischen und protektionistischen Diskurs wie kaum eine zweite Partei", meint Simón.
So wetterte Santiago Abascal während der TV-Wahlkampfdebatte immer wieder gegen Einwanderer, Feministinnen, gegen die EU und gegen die katalanischen Separatisten. Seine Lösung für den Katalonien-Konflikt: Verbot separatistischer Parteien, die Auflösung der katalanischen Autonomie und die sofortige Festnahme von Regierungschef Torra.
Rechtspopulismus auch in Spanien angekommen
Die Abschaffung sämtlicher spanischer Autonomien und die damit verbundenen Kosten sind dabei fast die einzige Basis des Wirtschaftsprogramms Abascals. Sein Leitmotiv: "Spanier und Spanien zuerst". Weniger europäische Integration, weniger Geld für Umweltschutz und Migration, mehr Geld für spanische Pensionisten und Langzeitarbeitslose.
Lange galt Spanien als immun gegen politische Ansätze dieser Art. Jetzt ist auch in Spanien der Rechtspopulismus angekommen.
Man dürfe den Vormarsch von Vox allerdings nicht überbewerten. "Dass sie drittstärkste Fraktion werden könnten, liegt eher am zu erwartenden Wahldebakel der rechtskonservativen Ciudadanos und der linken Unidas Podemos", meint Wahlforscherin María José Canel. Während die Linke zehn ihrer 42 Sitze verlieren könnte, dürften die Ciudadanos von 57 auf 15 Mandate abrutschen.
Stimmengewichtung begünstigt rurale Regionen
Auch begünstige das spanische Wahlsystem Parteien wie Vox, die in bevölkerungsschwachen Regionen stark sind. In ländlichen Regionen können Parteien mit weniger Stimmen leichter Parlamentsmandate bekommen. Das zeigt, warum Vox mit eventuell 14,9 Prozent fast ein Fünftel (49) der 350 Mandate erreichen kann, die in den Großstädten starke Podemos mit 11,2 aber nur auf 32 Mandate kommt.
Fest steht jedoch, Vox ist die neue Realität. Konnten Sozialisten wie Konservative im Wahlkampf im Frühjahr noch viele Wähler mit der Angst vor den neuen Rechtspopulisten mobilisieren, haben sich die Spanier heute an die Partei gewöhnt. Seit Mai sitzt sie im Europaparlament. PP und Ciudadanos regieren mit Unterstützung von Vox in zahlreichen Regionen und Kommunen.
Regierungsverantwortung auf nationaler Ebene werden die Rechtspopulisten am 10. November aber nicht bekommen. Ein Mitte-rechts-Bündnis von PP, Ciudadanos und Vox ist weit entfernt von einer regierungsfähigen Mehrheit. Noch.