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Viel Unrecht aus der NS-Zeit ist noch immer nicht erforscht und verursacht bis heute Schmerzen.
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Bei der Befreiungsfeier auf dem Wiener Heldenplatz saß er in der ersten Reihe. "Ich habe Herrn Karmasin nach dem Krieg mehrmals angerufen, den einflussreichen Nazi aus Bratislava", sagt der alte Mann, der als jüdisches Kind im Versteck überlebte, eindringlich und voller Trauer. "Aber er wollte nicht mit mir reden und mich auch nicht treffen." Warum er ihn angerufen hat? "Ich wollte wissen, warum er das getan hat." Franz Karmasin war nach dem Krieg aus Bratislava nach Österreich geflüchtet. Er war gegen die "jüdische Presse" aufgetreten, wollte die deutsche Volksgruppe in der Tschechoslowakei "von asozialen jüdischen Elementen" befreien und soll an der Deportation von Juden beteiligt gewesen sein. Ein Ehepaar sammelte nach dem Krieg die Bilder eines KZ-Überlebenden. Der völlig verarmte Maler war damals sehr froh, wenigstens etwas Geld für seine Werke zu erhalten. Als sein Sohn später mühsam über einen Kredit die Bilder seines Vaters zurückkaufte, musste er dafür weitaus höhere Preise bezahlen.
So viel Unaufgearbeitetes, das bis heute Schmerzen verursacht. Während viele die NS-Zeit als längst vergangen abtun, plagen sich andere bis heute mit dem emotionalen Erbe, den Schäden und Belastungen.
In Brigitte Halbmayrs neuem Buch "Brüchiges Schweigen. Tod in Ravensbrück - auf den Spuren von Anna Burger" (Mandelbaum Verlag 2023) ist es nun die Enkelin Siegrid Fahrecker, die forscht und recherchiert und dranbleibt, um das Dunkel um ihre ermordete Oma zu erhellen. Die Tochter, die in Pflegefamilien aufwuchs, genierte sich zu sehr. Während vor rund 30 Jahren allein die Sozialakademie-Absolventin Angela Mayer zur Ermordung "asozialer Frauen" forschte ("Arbeitsanstalten für sogenannte asoziale Frauen im Gau Wien und Niederdonau", 1990), gibt es inzwischen mehr Informationen über diese spezielle NS-Vernichtungsmethode. Extrem lange hat es gedauert, die Todesstrafe nach Einschätzungen wie "moralischer Schwachsinn", "triebhafte Psychopathie" oder "hemmungsloser" Ablehnung weiblicher Rollen zu hinterfragen. In der NS-Zeit kamen "Arbeitsunwillige" in Arbeitsanstalten und, wenn sie dort auffielen, ins Konzentrationslager. Bettler wurden als "Gemeinschaftsfremde" in eine Wiener "Beschäftigungsanstalt für Bettler" gesteckt. Mit der "Aktion Arbeitsscheu Reich" landeten 10.000 "gesellschaftliche Versager" in deutschen KZ. Am Steinhof starben unter anderen 202 Hamburgerinnen, die 1943 aus den "Altersdorfer Anstalten" gebracht wurden. Todesurteile für Frauen trugen etwa die Unterschrift von Hans Bertha, der nach dem Krieg Leiter der Universitätsnervenklinik in Graz wurde.
Es gibt keine Gedenkstätte, ja nicht einmal eine Erinnerungstafel beim Pavillon 23 am Steinhof. Die Opfergruppe wurde vom Gesetzgeber nie anerkannt. "Bis heute", hält Halbmayr in ihrem neuen Buch fest, "hält sich hartnäckig die Sichtweise, die als ‚asozial‘ oder ‚kriminell‘ Verfolgten hätten ihre Haft selbst verschuldet, wären zu Recht im Konzentrationslager gewesen."