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Der lange Schatten von Smolensk

Von Martyna Czarnowska

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Die Bewertung der Flugzeugkatastrophe vor sieben Jahren sorgt in Polen noch immer für Streit - nicht zuletzt mit innenpolitischem Hintergrund.


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An seiner Kondition wird es nicht scheitern. Donald Tusk ist ein sportbegeisterter Mann; er mag sowohl das Fußballspiel als auch das Lauftraining. Der Marathon, der jetzt vor ihm liegt, stellt trotzdem eine besondere Herausforderung für den EU-Ratspräsidenten dar. Er führt ihn nämlich unter anderem vor die polnische Justiz.

Per Kurznachrichtendienst Twitter listete Tusk seine Termine für die kommenden Tage auf: 16. April Ostern zu Hause, 19. April Staatsanwaltschaft in Warschau, und am 22. ist Geburtstag, der sechzigste. "Kein schlechter Marathon", kommentierte der Pole.

Dass der ehemalige Premierminister als Zeuge vorgeladen wird, hat mit einem Ereignis zu tun, dessen Bewertung in Polen schon seit sieben Jahren für heftige Kontroversen in Politik und Gesellschaft sorgt. Am 10. April 2010 stürzte die polnische Regierungsmaschine in der Nähe der russischen Stadt Smolensk ab; die Passagiere waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier für die Opfer des Katyn-Massakers im Jahr 1940. Bei der Flugzeugkatastrophe kamen 96 Menschen ums Leben, unter ihnen der damalige Staatspräsident Lech Kaczynski.

An einen Anschlag der Russen glauben zwar die wenigsten Polen. Doch schon ein paar mehr schließen sich der Theorie an, dass das Kabinett unter Tusk nicht alles Nötige zur Aufklärung des Unfalls beigetragen hatte.

Diese Vorwürfe erhalten reichlich neue Nahrung, seitdem die nationalkonservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Regierungsmacht mit absoluter Parlamentsmehrheit übernommen hat. Ihr Vorsitzender ist Jaroslaw Kaczynski, der Zwillingsbruder von Lech Kaczynski. Und auch wenn er kein Ministeramt ausübt, ist nicht zuletzt er die treibende Kraft dahinter, dass die Untersuchungen zu Smolensk wieder aufgenommen werden - was sogar eine Exhumierung der Opfer umfasst.

Ex-Außenminister Radoslaw Sikorski musste schon bei einem Prozess aussagen, in dem es um mutmaßliche Pflichtverletzung durch ranghohe Beamte geht. Nun ist Ex-Premier Tusk an der Reihe. Er soll der Staatsanwaltschaft als Zeuge in einem Verfahren dienen, in dem die Zusammenarbeit zwischen den polnischen und russischen Geheimdiensten beleuchtet wird. Seine erbittersten Gegner aber würden ihn am liebsten wegen Landesverrats anklagen, der mit einer mehrjährigen Haftstrafe geahndet wird.

Für Kaczynski selbst wäre es wohl ebenfalls eine Genugtuung, seinen Rivalen im Gerichtssaal zu sehen. Es könnte noch dazu von innenpolitischem Nutzen sein. Denn Tusk, einmal aus Brüssel zurückgekehrt, könnte in der von ihm mitgegründeten bürgerlichen Bürgerplattform (PO) wieder eine Schlüsselrolle einnehmen - und PiS gefährlich werden. In zweieinhalb Jahren läuft seine Amtszeit als EU-Ratspräsident aus; in Polen rückt zu dem Zeitpunkt die Wahl des Staatspräsidenten näher. Tusk könnte zum Kandidaten der PO gekürt werden und hätte gute Chancen, Andrzej Duda, der aus den PiS-Reihen kommt, auf dessen Posten abzulösen.

Diese Aussichten möchten die Widersacher des ehemaligen Premiers trüben. Eine Diskreditierung Tusks wäre ihnen nur recht.