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Der längste Tag für die Insel Giglio

Von Rainer Mayerhofer

Politik

56 Stahlketten zogen das havarierte Schiff vom Meeresgrund in die Höhe.


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Giglio. Mit einer durch schwere Gewitter in der Nacht bedingten Verzögerung von drei Stunden begann am Montagmorgen vor der Küste der Insel Giglio die "Operation Parbuckling", das Aufrichten des am 13. Jänner 2012 halb versunkenen Kreuzfahrtschiffes "Costa Concordia". Nachdem das morgendliche Fährboot Giglio verlassen hatte - für die Dauer der Bergungsaktion wurde jeglicher Schiffsverkehr eingestellt - und der Lastkahn, auf dem der Kontrollraum für die Bergungsaktion untergebracht ist, und auch die Umweltschutzbarrieren in Position gebracht worden waren, konnte der aus Südafrika stammende Bergungsexperte Nick Sloan um neun Uhr mit der aufsehenerregenden Operation beginnen.

500 Menschen aus 30 Ländern - darunter 120 Taucher, 70 Schweißer und Zimmerleute, 60 Techniker und Piloten, 60 Logistik- und Sicherheitskräfte, 50 Ingenieure und 140 Besatzungsmitglieder auf den 30 an der Bergungsaktion beteiligten Schiffen - standen im Einsatz. Nick Sloane überwachte mit elf Technikern auf acht Monitoren im Kontrollraum den Fortgang der Bergungsarbeiten.

Zehn Biologen achteten auf eventuelle bei der Bergung auftauchenden Umweltbelastungen. Im Wrack des Kreuzfahrtschiffes befinden sich rund 236.000 Kubikmeter Wasser. Rund 80.000 Kubikmeter davon könnten bei der Aufrichtung des Schiffes freigesetzt werden und damit auch Schmieröl und Chemikalien sowie die verdorbenen Lebensmittel, befürchteten Experten im Vorfeld der Bergung.

Fauliger Geruch von zersetzten Lebensmitteln

Eine halbe Stunde nach dem Beginn der Arbeiten verbreitete sich ein fauliger Geruch, der von den zersetzten organischen Materialien auf dem Schiff stammt. Ein Experte gab aber Entwarnung. Es liege alles im erwarteten Bereich und man beobachte laufend die Schwefel-Wasserstoff-Werte.

Mithilfe von 56 Stahlketten, die jeweils 58 Meter lang sind 26 Tonnen wiegen - insgesamt wurde für die Ketten viermal so viel Stahl verwendet wie für den ganzen Eiffelturm -, wurde das Wrack langsam bewegt. Die aus dem Wasser auftauchende Seite zeigt massiven Rostansatz und bestätigt jene, die auf eine rasche Bergung drängten, weil das Wrack möglicherweise einen zweiten Winter im Meer nicht mehr heil überstanden hätte.

Versunkene Seite des Schiffes stark deformiert

Um 12.30 Uhr dann wird den hunderten Journalisten und Kamerateams, die die Bergung verfolgen, die erste große Erfolgsnachricht mitgeteilt: Das Schiffswrack hat sich vom Meeresboden gelöst. "Wir haben die erste Phase gut überstanden, alles läuft nach Plan", betont Zivilschutzchef Franco Gabrielli. Techniker stellen fest, das der bisher im Wasser liegende Teil des Luxusschiffes stark deformiert ist. Genaueres könne man aber erst nach der völligen Aufrichtung des Schiffes sagen.

Gut eineinhalb Stunden später erklärt Sergio Girotto, ein Ingenieur der Bergungsfirma mit Seemanns ausdrücken: "Die ,Costa Concordia‘, die bisher auf auf der Seite lag, hat sich erhoben und stützt sich auf ihr Knie." Übersetzt heißt das, sie steht jetzt auf der Kante des Kiels.

Unterdessen senken sich die auf der bisher aus dem Wasser ragenden Seite des Schiffes angeschweißten Tanks, die beim Aufrichten des Schiffes helfen sollen, zum Meeresspiegel hin. Die größten von ihnen sind elf Stock hoch und wiegen je 523 Tonnen, die kleineren sind 11 Meter kleiner, aber immer noch 22 Meter lang. Die Tanks werden durch ein Ventilsystem mit Wasser gefüllt, um das Aufrichten des Wracks zu unterstützen.

Sechs Stunden nach Beginn der Bergungsarbeiten hat das Wrack, das um 65 Grad gedreht werden soll, eine Drehung von zehn Grad erreicht, aber der Teil, der nun aus dem Wasser ragt, ist viel größer. "Das Schiff, das durch sein eigenes Gewicht um eineinhalb Meter zusammengebrückt worden war, hat wieder seine ursprüngliche Form angenommen", erklärt Ingenieur Girotto. "Es hat sich wie ein Blasbalg geöffnet."

Vom Ufer aus beobachtet Kevin Rebello, der Bruder des seit dem Schiffsunglück vermissten Besatzungsmitglieds Russel Rebello, die Bergungsarbeiten. "Auf diesen Moment habe ich 20 Monate lang gewartet", sagt er. Russels Leiche wird unter den Trümmern eines der Schiffsrestaurants vermutet. Für seine Familie in Indien ist es wichtig, dass man zumindest eine Spur seines Körpers findet. Denn ohne Leiche kann man in Indien erst nach sieben Jahren für tot erklärt werden. Für Russels Frau schafft das viele Probleme.

Unterdessen zeichnete sich ab, dass die Bergungsaktion länger als die prognostizierten zehn bis zwölf Stunden dauern wird. Am Nachmittag rechnete man schon mit 18 Stunden.