Katalonien-Expertin Lola García über die Gründe, warum die Separatisten immer noch so stark sind.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Vor einem Jahr, am 1. Oktober 2017, ließ die katalanische Regionalregierung von Separatistenführer Carles Puigdemont trotz des Verbots durch das Verfassungsgericht ein illegales Referendum über eine Loslösung von Spanien abhalten. 90 Prozent stimmten damals dafür. Doch nahmen nur knapp 42 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt teil. Puigdemont rief drei Wochen später dennoch die Unabhängigkeit aus. Die Separatistenparteien erhielten bei Neuwahlen im Dezember erneut eine knappe Mehrheit. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Lola García, der stellvertretenden Chefredakteurin bei der katalanischen Zeitung "La Vanguardia", über die Stimmung in der Region.
"Wiener Zeitung": Mittlerweile ist ein Jahr seit dem Unabhängigkeitsreferendum vergangen. Sind die Separatisten ihrem Ziel nähergekommen?
Lola García: Nein. Ganz im Gegenteil: Puigdemont und seine Regierung wurden nach der Ausrufung der Unabhängigkeit abgesetzt, die Region stand lange unter Zwangsverwaltung. Zahlreiche Mitglieder der damaligen Regierung sitzen in Untersuchungshaft, werden sogar der Rebellion angeklagt. Andere sind vor der spanischen Justiz ins Ausland geflohen.
Heißt Ihr neues Buch über die Unabhängigkeitsbewegung also wegen des Scheiterns der Separatisten "Der Schiffbruch"?
Nein, es geht vielmehr um das Scheitern beider Lager. Die Separatisten scheiterten bisher mit der Art und Weise, die Unabhängigkeit zu erreichen. Sie machten den Fehler, einen konkreten Zeitplan festzulegen, der nicht aufgeht und die Unabhängigkeitsbefürworter frustriert. Andererseits war die spanische Zentralregierung des damaligen konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy unfähig, eine politische Lösung zu finden, um den Katalonien-Konflikt zu verhindern. Madrid setzte bei der Verhinderung des Referendums auf Polizeigewalt und ging juristisch gegen die Separatisten vor. Aber auch der spanische Staat als solcher scheiterte. Spanien war nicht in der Lage, die Katalanen ein wenig zu umgarnen, damit Katalonien weiterhin Teil Spaniens bleiben möchte.
Warum möchten denn immer mehr Katalanen nicht mehr Spanier sein?
Dafür gibt es mehrere Gründe - historische, sprachliche, kulturelle. Über Jahrzehnte störte es viele, dass Katalonien - mit dem Baskenland und Galicien eine von Spaniens historischen Regionen - keinen Sonderstatus mit Steuerhoheit wie das Baskenland hat. Seit 2010 erhält die Unabhängigkeitsbewegung jedoch besonders großen Zulauf. Damals kippte die konservative Volkspartei, der PP von Rajoy, vor Gericht das mit dem Parlament ausgehandelte Autonomie-Statut. Die Konservativen nutzten den Katalonien-Konflikt stets, um den spanischen Nationalismus zu stärken. Deshalb wächst auch immer das Separatistenlager an, wenn in Madrid die Konservativen regieren. Die Blockadepolitik der PP-Regierung, die den Konflikt nicht politisch, sondern nur vor Gericht lösen wollte, tat das ihrige.
Das hört sich fast so an, als seien vor allem die Konservativen die Hauptschuldigen für die Loslösungswünsche vieler Katalanen.
Natürlich nicht. Aber viele Katalanen fühlen sich nicht repräsentiert, wenn die Konservativen Spanien regieren. In Katalonien spielt die Volkspartei kaum eine politische Rolle. Aber ihre Art und Weise, den katalanischen Unabhängigkeitsprozess in Gerichtssälen und mit Polizeieinsätzen zu stoppen, provozierte selbst bei vielen Katalanen, die nicht für die Loslösung sind, den Wunsch nach dem Selbstbestimmungsrecht. Seit 2009 gab es immer wieder Proteste für das Selbstbestimmungsrecht. Seit 2012 handelt es sich jedoch um riesige Massenproteste für die Unabhängigkeit. Und es kam zu einem qualitativen Sprung. Die Politik verbündete sich mit dem Volk, um gemeinsam dieses Ziel zu erreichen.
Wie kam es dazu?
Es war katalanische Regionalpräsident Artur Mas, der die damalige Wirtschaftskrise nutzte und versprach, das eigentlich wirtschaftsstarke Katalonien werde ohne Spanien und den unfairen Länderfinanzausgleich viel schneller aus der Wirtschaftskrise zu kommen. Mas war allerdings nicht Separatist von Anfang an, dazu wurde er erst im Laufe der Jahre. Mas war ein gemäßigter Nationalist, der vor allem die Möglichkeit sah, mehr Autonomierechte und mehr Steuerhoheiten mit Madrid aushandeln zu können. Er stellte sich vor die Unabhängigkeitsbewegung, vereinte die Politik und Bürger und machte die Bewegung dadurch erst so stark. Während in Spanien der Frust über die Krise die linken Populisten Podemos und die Empörten-Bewegung entstehen ließ, kanalisierte er sich in Katalonien in der Unabhängigkeitsbewegung. Der perfekte Sturm.
Der Weg ist aber ins Stocken geraten. Zeigt die Unabhängigkeitsbewegung keine Müdigkeitserscheinungen?
Keineswegs. Das hat man zuletzt am 11. September, am katalanischen Nationalfeiertag, gesehen, als über eine Million Menschen in Barcelona für die Unabhängigkeit protestierten. Die Unabhängigkeit zu erreichen, ist für viele ein Lebenstraum. Es sind aber vor allem die sogenannten politischen Gefangenen, welche die Unabhängigkeitsbewegung überhaupt in dieser Form und Stärke am Leben erhalten. Sollten die inhaftieren Mitglieder der damaligen Regionalregierung und die Vorsitzenden der separatistischen Bürgerplattformen demnächst wirklich wegen der Durchführung des Referendums und der Ausrufung der Republik verurteilt werden, dürfte es knallen.
Bisher knallt es aber nicht. Auch der "heiße Herbst", den die sogenannten "Komitees zur Verteidigung der Republik" mit Straßensperren und Massenprotesten versprachen, fand bisher nicht statt.
Es kam in den vergangenen Wochen bereits häufig zu kleineren Protestmärschen und Veranstaltungen. Ich gehe aber davon aus, dass dieser heiße Herbst erst richtig im Oktober starten wird. Am 1. Oktober, am Jahrestag des Unabhängigkeitsreferendums, sind alle Bürger aufgerufen, sich vor den Schulen und Orten zu versammeln, wo sie vor einem Jahr abstimmten. Am 3.Oktober sollen ebenfalls Proteste stattfinden. An jenem Tag verurteilte vor einem Jahr König Felipe das Unabhängigkeitsreferendum in einer Fernsehansprache und empörte damit viele Katalanen, die zudem enttäuscht waren, dass er als König nicht seine verfassungsrechtliche Rolle als Vermittler im Katalonien-Konflikt übernahm. Am 27.Oktober ist dann der Jahrestag der Ausrufung der Republik. Es wird viele Proteste geben. Auch Gegenproteste der Unabhängigkeitsgegner, der sogenannten schweigenden Mehrheit, die seit einem Jahr nicht mehr schweigt. Damit steigen die gesellschaftlichen Spannungen in Katalonien. Ich glaube und hoffe aber nicht, dass wir Ausschreitungen oder wie damals gewalttätige Polizeieinsätze sehen werden. Tatsächlich ist bisher aber noch nicht viel passiert. Das liegt auch daran, dass die separatistischen Parteien untereinander streiten, in welche Richtung es gehen soll.
Warum ist das Separatistenlager denn zerstritten?
Es herrscht unter den separatistischen Parteien eine gewisse Orientierungslosigkeit. Die Parteien sind zerstritten, weshalb auch die Separatistenbewegung "Nationaler Ruf nach der Republik" (kurz: Crida) des ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont, die die unterschiedlichen Gruppen einen sollte, wohl niemals das Licht der Welt erblicken wird. Vor allem trennt die Parteien ein Richtungsstreit. Die Linksrepublikaner der ERC wollen die Sache langsamer angehen und eine noch größere Unterstützung innerhalb der Bevölkerung erreichen, um mit Madrid ein neues und diesmal legales Referendum auszuhandeln. Sie wollen, dass das Separatistenlager bei mehreren Wahlen mindestens 50 Prozent der Stimmen erhält, um legitimiert zu sein. ERC-Chef Oriol Junqueras erklärte bereits aus der Untersuchungshaft, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung komme für seine Partei nicht mehr in Frage. Puigdemont und seine konservative separatistische PDeCAT wollen hingegen so bald wie möglich Neuwahlen und bei über 50 Prozent direkt einen neuen Versuch starten. Die neomarxistische CUP spricht sich für die sofortige Umsetzung der vor einem Jahr ausgerufenen Republik aus. Neben Richtungskämpfen geht es natürlich auch um Machtkämpfe. Unterdessen steigt der Druck. Die Menschen, die jahrelang von den Parteien aufgestachelt wurden, wollen Ergebnisse sehen.
Könnten die Separatisten bei Neuwahlen denn über die Hälfte der Stimmen bekommen?
Sollten die inhaftierten Politiker der damaligen Regierung wirklich wegen Rebellion, zivilem Ungehorsam und anderen Vergehen im Zuge des Referendums und der Ausrufung der Republik verurteilt werden, ja. Viele Katalanen würden das als Erniedrigung und Demütigung des Volkes ansehen.
Spaniens neuer sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez verspricht nun allerdings politischen Dialog. Sehen Sie eine Chance?
Eigentlich nicht, denn Sánchez bietet Dialog über mehr Autonomierechte und Investitionen. Damit will und kann er vielleicht erreichen, dass viele Menschen bei den nächsten Wahlen ihre Stimme nicht mehr separatistischen Parteien geben. Aber den Katalonien-Konflikt wird das nicht lösen. Die Separatisten wollen nicht über mehr Geld oder Rechte verhandeln, sondern über die Unabhängigkeit, und das ist auch für Sánchez eine rote Linie.
Lola García (50) ist stellvertretende Chefredakteurin der liberal-regionalistisch ausgerichteten größten katalanischen Tageszeitung "La Vanguardia". In ihrem Buch "El Naufragio" ("Der Schiffbruch") beschreibt sie die Vielschichtigkeit des katalanischen Unabhängigkeitsprozesses.