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Der letzte Gang

Von Alexander U. Mathé

Mit dem Ende der Tageszeitung leert sich die Redaktion endgültig. Das hektische Treiben wird fehlen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der letzte Gang ist für vorausschauende Menschen nie der letzte Gang. Bei ihnen findet der bedeutungsschwere Abschied weit früher statt. Dann nämlich, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt, und nicht erst, wenn es ihnen ein willkürlich gewählter Moment aufzwingen will.

Es ist kurz nach 18 Uhr an jenem Donnerstag Anfang April. In der Redaktion der "Wiener Zeitung" ist es zappenduster. Ertastet und eingeschaltet, vermittelt das künstliche Licht am Eingang ein Gefühl von Deplatziertheit. Gänge und Zimmer sind verwaist. Gegenüber dem Gebäude dudelt die Musik des Cirque du Soleil, der sich bereit macht, seine Gäste zu empfangen.

In der Redaktion zeigt ein Blick in die Zimmer Plätze, die leerer sind als leer. Leer, weil sich gerade niemand dort befindet. Leerer, weil viele der Plätze auch untertags nicht besetzt wären. Der Sparkurs der vergangenen Jahre hat diese Geisterbereiche geschaffen: nicht nachbesetzte Stellen; zuletzt im Monatstakt. Den Rest besorgte Corona. Nach dem staatlich verordneten monatelangen Zwang zum Homeoffice wollten die meisten Redakteure nach der Maßnahmenlockerung den neuen Modus Vivendi nicht gänzlich verwerfen. Nur ganz wenige kamen beharrlich täglich in die Redaktion. Meist waren es Väter, für die ihr Büro die letzte Zuflucht vor der Familie darstellte.

Die Deadline immer ausgereizt

Den ersten Gang entlang, vorbei an Sekretariat und Chefredaktion, ist an der Wand der Platz für den Stolz der Redaktion: Hier wurden täglich die einzelnen Seiten der Zeitung aufgehängt, bevor sie an die Druckerei geschickt wurden. Nun hängen bloß ein paar wenige Blätter dort; vereinzelt und schief, als hätte ein verheerender Wind durch den Gang geblasen. Ein Blick auf einen der A3-Ausdrucke verrät: Die kümmerlichen Seiten an der Wand wurden dort im Oktober platziert. Auch das eine Folge von Corona. Seit der Umstellung auf mobiles Arbeiten wurden die Seiten nicht mehr physisch abgegeben beziehungsweise aufgehängt. Der zuständige Redakteur informierte über einen Messenger-Dienst den Chef vom Dienst über die Fertigstellung. Die Bekanntgabe knapp, aufs Minimum reduziert: "Seite 8 bitte." - "Danke."

Vor dem hinteren Teil des Ganges muss erneut ein Lichtschalter gefunden werden. Auf einmal ist es grell. Die Augen kurz geschlossen, dringt so etwa wie eine akustische Fata Morgana ans Ohr. Eine Geräuschkulisse aus längst vergangenen Tagen. Erst ganz leise. Das Klappern einer Tastatur. Dann sind es mehrere. Dazu gesellt sich ein leises Gebrabbel. Zunächst ist es schwer, die einzelnen Wortfetzen zu identifizieren. "Diesen Punkt noch einbauen . . . den Überhang . . . gegenlesen." Dann wird es allmählich deutlicher. "Kannst du die Kurzmeldungen machen?" - "Nein, ich schreib grad den Dreispalter vom Praktikanten um."

Das Klappern der Tastatur ist inzwischen zum Maschinengewehr-Stakkato angeschwollen: Ein Redakteur, der statt des Zehn-Finger-Systems das Geier-such-System für sich auserkoren hat, drischt auf die Tastatur ein, als gelte es, gezielt Kleintiere totzupecken. "Was ist mit Seite 4?", schallt es durch den Gang. Auf einmal sind wieder Farbe und Leben in der Redaktion. Die Zeit zwischen 17.45 und 18.15 Uhr - Endstress pur. Die Deadline für die Abgabe der letzten Seite ist eigentlich 17.45 Uhr. Doch den halbstündigen Puffer für Notfälle reizen viele Redakteure - zumal im Politik-Ressort - verwegen und fast schon prinzipiell aus. Ein Telefon läutet. "Jaja! Ich mach, so schnell ich kann!", sagt der Redakteur dem besorgten Chef vom Dienst, legt auf, sammelt sich und tippt weiter.

Am Gang ertönt ein sich schnell näherndes Stampfen. Keuchend hastet eine Redakteurin mit zwei Ausdrucken derselben Seite in Richtung des Anrufers. Der geht ruhig und aufmerksam über den Text, im Stile einer Lesung mit Tora-Zeiger. Plötzlich runzelt er die Stirn. "Verriebene? Das sollen wohl eher Vertriebene im Titel sein." Er zeichnet den Fehler an, geht über den Rest und setzt seine Paraphe. Die Redakteurin bringt die Seite zu den Layoutern. Die geben den letzten Feinschliff und schicken das fertige Werk per Computer an die Druckerei. In früheren Zeiten hat sie die andere Seite an die Wand gehängt.

Dort stehen bereits zwei Redakteure vor den ausgedruckten Seiten und lesen als Erste die (bis auf drei Seiten) fertige Zeitung. Noch gefundene Fehler werden angezeichnet und später zur Verbesserung weitergeleitet. Zu spät für die erste Ausgabe der Zeitung, aber immerhin in der zweiten Ausgabe (die es heute längst nicht mehr gibt) werden sie nicht mehr erscheinen. "Das darf doch nicht wahr sein!", echauffiert sich auf einmal einer der beiden. "Diese Schlagzeile ist doch eine Katastrophe!" Sprach’s und rennt zum Chef vom Dienst.

Wenn sie nie mehr erscheint

Im selben Augenblick stürzt der Chefredakteur aus seinem Zimmer und läuft ins Politik-Ressort. "Ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass ihr das genau so nicht machen sollt!" Sein Gegenüber beschwichtigt. "Da schau: Im sechsten Absatz steht es eh so, wie du willst." Eine Diskussion entbrennt, die zwischen unangebrachter Eingriffname auf der einen Seite und journalistischer Sorgfaltspflicht auf der anderen oszilliert.

Wieder läutet das Telefon des Nachzüglers. "Glaubst du wirklich, ich werde schneller fertig, wenn du mich im Minutentakt sekkierst?!", brüllt er diesmal. Die Nerven liegen blank. Eine Pause. "Ach so. Ja, ich gebe sie frei. Danke", sagt er nun kleinlaut. Beim Zeichnen der Seite ist ihm ein Fehler unterlaufen. Diesen müssen angesichts der Zeitknappheit nun die Layouter korrigieren. Nur darf der Redakteur dafür die Seite nicht auf seinem Bildschirm geöffnet haben, da sie so gesperrt ist.

Mittlerweile ist es 18.10 Uhr. Titelkorrekturen, Grundsatzdiskussionen, nicht fertiggeschriebene Artikel. Wie soll sich das alles ausgehen? Auf wunderbare Weise war es bisher immer der Fall. Doch was, wenn es diesmal nicht so ist? Was wenn die Zeitung diesmal nicht erscheinen kann? Oder: überhaupt nie mehr? Die im Schock aufgerissenen Augen blicken wieder in gähnende Leere. Leere und Stille. Es ist Zeit zu gehen.

Der vierflügelige Haupteingang wirkt unangebracht. Durch den geht man als Sieger, nicht als Verlierer. Auch der vierflügelige Nebeneingang scheint unpassend. Der Wiener sagt zum Abschluss leise "Servus". Den Hauptgang einmal um die Ecke gegangen, befindet sich am Ende eine kleine Tür. Die führt zum Stiegenhaus und ins Freie. Das Licht ausgeschaltet, die Tür geöffnet und einen letzten Blick in den letzten Gang geworfen - dann ist Schluss.

Diesen Artikel finden Sie in Printform - ein letztes Mal - am 30. Juni in Ihrer "Wiener Zeitung".