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Der letzte Makel der Deutschen

Von Christian Mayr

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Noch nie konnte Deutschland Italien bei einer Endrunde besiegen - schon allein deshalb ist der Viertelfinal-Schlager das Spiel der EM.


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So wie Lionel Messi mit Argentinien keine Titel gewinnt, so wie England kein Elfmeterschießen für sich entscheidet, genauso können die Deutschen gegen die Italiener nicht gewinnen. Diese Konstanten gehören wie ein Ball und zwei Tore zum Fußball und werden dementsprechend oft ausgewalzt - auch wenn sie genau genommen nicht richtig sind. Messi wurde schließlich mit der Albiceleste 2005 U20-Weltmeister, die Three Lions bezwangen Spanien 1996 im EM-Viertelfinale nach Penaltys - und auch Deutschland hat die Squadra Azzura seit 1923 schon acht Mal besiegt. Zuletzt im März in der EM-Vorbereitung sogar recht deutlich mit 4:1. Alle acht Pflichtspiele hingegen - diese fanden übrigens ausschließlich bei WM- und EM-Endrunden statt - gingen an die Italiener beziehungsweise endeten in den Vorrunden mit einem Remis. Bilanz: vier Siege, vier Unentschieden. Wobei man nicht unerwähnt lassen darf, dass eben diese vier Siege für Italien teilweise gewaltige Triumphe waren und für Deutschland dementsprechend verheerende Niederlagen.

Etwa das WM-Halbfinale 1970 in Mexiko-Stadt, das unter dem Namen "Jahrhundertspiel" zum Mythos wurde: Nach 90 Minuten steht es 1:1, doch die deutschen Tugenden werden trotz Führung der Beckenbauer-Elf von italienischer Fußball-Kunst noch überboten: 5Tore fallen in 17 Minuten, eines mehr durch die Italiener - 4:3 nach Verlängerung.

1982, beim WM-Finale in Madrid, rechnet ganz Deutschland mit der Revanche, doch Paolo Rossi und Co. machen früh alles klar: 3:1.

Vielleicht noch bitterer dann das WM-Halbfinale 2006 im eigenen Land, als die Azzuri das deutsche Sommermärchen zerstören: 2:0 nach Verlängerung für den späteren Weltmeister - das Drama von Dortmund.

Und auch vor vier Jahren holen die Italiener die Deutschen im EM-Halbfinale in Warschau aus allen Titelträumen: Ein entfesselter Mario Balotelli trifft zwei Mal, Jogi Löws Truppe erholt sich nicht mehr vom Schock - Endstand 2:1.

Und jetzt also das Wiedersehen im EM-Viertelfinale am Samstagabend in Bordeaux - gibt es für den Weltmeister ein bitteres Déjà-vu oder folgt der große Befreiungsschlag, der den letzten Makel der deutschen Kicker zu einer Fußnote der Sportannalen degradiert? Und damit auch das einzige Trauma der Deutschen - die Angst vor den italienischen Fußballern - für immer entsorgt? Von wegen Trauma! Von Löw abwärts sind alle seit Tagen bemüht, diese Negativ-Bilanz wegzureden und den Blick auf die positive Gegenwart freizumachen. "Wir haben kein Italien-Trauma. Die Vergangenheit ist kalter Kaffee", meinte Löw hörbar genervt. Demgegenüber titelte der "Corriere dello Sport" großspurig: "Wir sind nicht der Alptraum der Deutschen, wir sind ihr Trauma, ihre fußballerische Tragödie." Und auch Giovanni Trapattoni, Wutredner der ersten Stunde bei Bayern, prophezeit einen weiteren Sieg seiner Landsleute: "Es liegt in der deutschen Mentalität zu denken, dass Deutschland die ganze Welt dominiert. Dann kommen wir Italiener, kleine Genies, und die Deutschen leiden sehr."

Wie auch immer es diesmal ausgeht: Es wird wohl das Spiel dieser Fußball-EM, das Finale vor dem Finale, das End-Spiel für einen der beiden viermaligen Weltmeister.