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Der letzte Sargnagel

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Das Datenleck war nur Auslöser, nicht Ursache, um das Online-Netzwerk Google+ zu schließen. Social-Media-Experte Henk Van Ess sieht eine Reihe von verpassten Chancen und Irritationen der Plattform.


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Mountain View/Wien. Einige wenige sahen Google+ als soziales Netzwerk ohne abertausende Hasskommentare, Clickbait-Müll und ausufernder Werbung. Viele andere würden sagen, es war so schön ruhig dort - weil einfach keiner da war.

Nachdem bekannt geworden war, dass zwischen 2015 und März 2018 eine Sicherheitslücke bestand, von der bis zu 500.000 Nutzer betroffen sein sollen, machte Google-Mutter Alphabet Anfang der Woche publik, sein soziales Netzwerk für Privat-Nutzer zu schließen. Nun stellt sich die Frage: Wer kann Marktführer Facebook, der 2,34 Milliarden Nutzer hat, 1,47 Milliarden davon sind jeden Tag auf der Plattform aktiv, eigentlich das Wasser reichen - wenn es die meistbesuchte Website und Suchmaschine der Welt schon nicht schafft?

Genau das sei der Grund für das Scheitern gewesen, sagt Henk Van Ess im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Weil man denkt, man ist so großartig und mächtig, glaubt man, man kann mit Ressourcen und viel Geld ein besseres Facebook auf dem Reißbrett schaffen", sagt der niederländische Social-Media-Trainer. "Man hat eine Lösung angeboten, für ein Problem, das die meisten Leute schlicht nicht haben", erklärt Van Ess. Denn es gibt bereits soziale Medien und viele Möglichkeiten für Menschen, online in Kontakt zu treten. "Google hat den Usern nicht zugehört, nicht geschaut, welches Problem die Leute haben, was sie wollen, wenn sie in einem sozialen Netzwerk aktiv sein wollen."

Dabei muss man Google+ schon lassen, dass es einige Vorteile gab: Cleanes Interface, gute Suchfunktion und weniger Werbung als beim Konkurrenten Facebook.

Die Plattform verschwindet außerdem nicht ganz von der Bildfläche, sondern bleibt für die interne Kommunikation von Unternehmen weiterhin bestehen.

Denn auch das hat gut funktioniert: Google stellt den Server für Betriebs-E-Mails bereit und bietet den Unternehmen im Zuge viele Apps an. Der Internet-Riese verkaufte Unternehmen auch seine Suchtechnik, die im unternehmensinternen Netz dieselbe Aufgabe übernimmt, die Google für das Internet leistet.

Das soziale Netzwerk hatte überdies eigentlich sämtliche Voraussetzungen, um erfolgreich zu sein. So machte Google jeden Nutzer eines Gmail-Accounts automatisch zum Google+-Mitglied - was die Zahl von 2,2 Milliarden Google+-Profilen erklärt. Aber genau diese Art der eher unfreiwilligen Mitgliedschaft hat wohl auch viele Nutzer irritiert. Auf vielen Android-Geräten war die App des Netzwerks ebenso vorinstalliert.

Auch über die Google-Tochter YouTube versuchte man, Nutzer zu gewinnen. Denn ohne einen Google+-Account konnte man sich bei dem Videoportal nicht registrieren. Das soziale Netzwerk sitzt deshalb auf einem Datenschatz von E-Mail-Adressen, Telefonnummern, Fotos bis hin zum Beziehungsstatus. Deshalb ist die Sicherheitslücke genauso ernst zu nehmen wie bei Facebook - auch wenn die Nutzer auf Google+ kaum aktiv waren.

"Chance verpasst, das bessere Netzwerk zu sein"

Die Google+-Zwangsbeglückungen wurden in den letzten Jahren dann auch Schritt für Schritt zurückgenommen. Was das Ende einleitete. Was zurückgeblieben ist, ist schlicht nichts wert. Denn Nutzerzahlen sagen über den Erfolg wenig aus.

Schaut man sich die Verweildauer auf Google+ an, kommt man schon eher dahinter, warum Schluss ist. 90 Prozent der Nutzer waren weniger als fünf Sekunden pro Sitzung auf der Plattform. Das reicht wohl gerade einmal, um die App auf dem Smartphone zu finden, zu öffnen - und gleich wieder zu schließen.

Was hat Google+ also noch falsch gemacht?

"Ein neues Produkt ohne Community scheitert", sagt Henk Van Ess. Das soziale Netzwerk zur Pflege von Geschäftskontakten, LinkedIn, versuche auch, Facebook nachzuahmen. So gibt es Likes, Nicht-Likes und Berichte - und das funktioniert gut, weil es bereits eine Community gibt, so Van Ess.

Die Geschichte von Google+ ist aber auch eine der verpassten Chancen. War zu Beginn des Netzwerks die Diskussion um den Schutz der Privatsphäre der Nutzer noch kein so dringliches Thema, so hätte Google genau das zum Unique Selling Point machen können und sich als soziales Netzwerk anbieten können, das Privacy ernst nimmt und schützt. Aber auch an eine starke Integration von Google-Produkten hätte das Unternehmen denken können, sagt Van Ess.

"Gegen Facebook schaffen es nur Guerilla-Unternehmen"

Auch wenn es viele Initiativen von kleinen Unternehmen gibt, eine Netzwerk-Alternative für Facebook zu bieten, so sieht der Social-Media-Experte Van Ess derzeit noch keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten am Markt.

Um hier erfolgreich zu sein, muss man seiner Meinung nach dafür sorgen, dass die Nutzer nicht abgezockt und mit Werbung überladen werden. "Ein werbefreies Netzwerk zu betreiben ist zwar sehr schwierig, aber man sollte versuchen, die Leute erst einmal werbefrei in Kontakt treten zu lassen", sagt Van Ess. Später könne man versuchen, die "heavy user" für ein Geschäftsmodell zu gewinnen, bei dem diese dann als Zusatzfunktion mehr Fotos versenden können.

"Am Ende wird es aber immer heißen: Ich habe doch schon Facebook und Snapchat - warum soll ich das denn machen?", so Van Ess.

Einen Konkurrenten, der eine echte Alternative zu Facebook sein kann, werde kein Internet-Gigant wie etwa Google auf die Beine stellen, so der Berater. Vielmehr könnten es eher kleine Unternehmen mit guerillaartigen Strategien vielleicht schon bald schaffen, der Nummer eins unter den Online-Netzwerken die Stirn zu bieten.

Bis dahin haben die Google+-Nutzer zehn Monate Zeit, sich zu verabschieden und ihre Daten zu sichern - sofern sie jemals aktiv etwas gepostet oder geteilt haben.