Manfred Krammer, Teilchenphysiker am Wiener Institut für Hochenergiephysik, über das Higgs-Boson sowie Teilchen, die schneller sind als Licht.
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Wiener Zeitung
: Im Dezember wurden im Europäischen Teilchenbeschleuniger LHC in Genf möglicherweise erstmals Hinweise auf das Higgs-Boson gefunden, das den Elementarteilchen Masse verleihen soll. Können die Ergebnisse nicht bestätigt werden, wankt das grundlegende Standardmodell der Physik. Doch was ist das überhaupt: das Standardmodell?Manfred Krammer: Im Bereich der Elementarteilchen ist das Standardmodell der Physik in den letzten rund 100 Jahren entstanden. Der Beginn war die Entdeckung des Elektrons Ende des 19. Jahrhunderts. In den letzten 40 Jahren hat der Wissensgewinn zu einer Theorie geführt, für die zahlreiche Nobelpreise vergeben wurden. Sie beschreibt die Elementarteilchen als geschlossene Menge von sechs Leptonen und sechs Quarks und deren Antiteilchen - die elementaren Bausteine des Universums. Zwischen ihnen wirken Kräfte: die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft.
Es gab 2011 Hinweise auf eine weitere Kraft namens Technicolor. Was halten Sie davon?
Findet man Abweichungen, sucht man Erklärungen durch ein zusätzliches Teilchen, eine zusätzliche Kraft oder Dimension. Die Abweichung hat sich aber nciht bewahrheitet. Alle anderen Messungen der letzten 30 rund Jahre haben bestätigt, dass das Standardmodell stimmt.
Wir haben also 24 Teilchen und drei Kräfte. Die Schwerkraft spielt auf der Ebene der Elementarteilchen keine Rolle, weil sie so leicht sind. Wir können sie daher noch nicht in die Theorie mit einbeziehen, wissen somit aber auch, dass das Standardmodell nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. In dem Bereich, in dem wir messen, stimmt es aber mit höchster Genauigkeit: Demnach zerfallen schwere Teilchen in leichtere und die vier leichtesten machen unser Universum aus - von den Quarks das Up und das Down und von den Leptonen das Elektron-Neutrino und das Elektron.
Woher wissen Sie von der Existenz der schwereren Teilchen?Mit dem Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) am Kernforschungszentrum Cern können wir uns aus unserem abgekühlten in ein heißes Universum zurückbewegen, wie 10 hoch minus 11 Sekunden nach dem Urknall. Da finden wir die schweren Teilchen: die Quarks Charm und Strange, Bottom und Top - und die Leptonen Myon-Neutrino und Myon, Tau-Neutrino und Tau. Bei den Wechselwirkungen zwischen den Teilchen kommen außerdem weitere Teilchen, die Bosonen, ins Spiel: Photon, Gluonen , Z- und W-Bosonen.
Was das Modell noch nicht vorhersagen kann, ist, warum die W- und Z-Bosonen so schwer sind, während das Photon die Masse 0 hat. Diese gebrochene Symmetrie wird durch das von Peter Higgs eingeführte Higgs-Feld erklärt, von dem das Universum durchdrungen sein soll. Je nachdem, wie stark die Elementarteilchen wechselwirken, bekommen sie mehr oder weniger Masse.
Es gibt den Vergleich des Higgs-Teilchens mit einem Popstar, der einen Raum betritt und langsamer und massereicher wird, weil sich alle um ihn scharen ...
Man kann sich das Higgs-Feld wie eine viskose Flüssigkeit vorstellen, in der ein eindringendes Teilchen abgebremst wird - das heißt, es bekommt Masse. Träge Masse ist schwer, leichte Teilchen fliegen durch, andere werden abgebremst. Im Standardmodell Higgs kann ein Higgs-Feld auch mit sich selbst wechselwirken, es verklumpt, und so entsteht ein Higgs-Teilchen.
Die Suche nach dem Higgs-Teilchen scheint das Physik-Jahr 2012 zu dominieren.
Wir suchen nicht nur nach dem Higgs. Am Cern laufen rund 100 Untersuchungen parallel. Finden wir das Higgs-Teilchen, ist das Standardmodell abgeschlossen. Finden wir es nicht, gibt es Alternativen.
Was gibt es für Alternativen, wenn man kein Higgs findet?
Die meisten Theoretiker bevorzugen das einfachste Higgs-Modell mit einem neutralen Teilchen. Eine andere Theorie erwartet zusätzlich ein positiv und ein negativ geladenes Teilchen, oder es werden Teilchen mit anderen Eigenschaften angenommen. Wir gehen aber in jedem Fall davon aus, dass es diese Symmetriebrechung gibt. Denn nur, weil der letzte Puzzlestein anders ist als erwartet, heißt das nicht, dass das ganze Puzzle falsch ist.
Es gibt Modelle, die ohne Higgs vorhersagen, dass sich bei höherer Energie die Teilchen anders verhalten. Das Standardmodell funktioniert nämlich nur bis zu einer gewissen Energie: Knapp nach dem Urknall bis zu einigen 100 Giga-Elektronenvolt (GeV, Maß für die Masse von Elementarteilchen) stimmt es. Aber ab einem gewissen Energiebereich bricht es zusammen. Es muss daher eine darüber liegende Theorie geben - wie bei der klassischen Mechanik und der Relativitätstheorie. Bei ganz hohen Geschwindigkeiten gilt die klassische Mechanik nicht mehr, sondern die Relativitätstheorie. Das heißt aber nicht, dass die klassische Mechanik nicht stimmt, sondern nur dass sie der Spezialfall ist für niedrige Geschwindigkeit.
Wie könnte die gesuchte übergeordnete Theorie aussehen?
Die Susy-Theorie wird bevorzugt. Susy steht für Supersymmetrie. Diese Theorie verlangt, dass es zu jedem Teilchen noch ein supersymmetrisches Teilchen gibt, so wie Materie und Antimaterie. Das leichteste supersymmetrische Teilchen könnte außerdem das Rätsel der dunklen Materie lösen. Die Supersymmetrie schlägt daher zwei Fliegen mit einer Klappe.
Sie sagten zuvor, je höher die Energie, umso eher entdeckt man schwerere Teilchen. Sie suchen aber das leichteste supersymmetrische Teilchen.
Ja, denn im Experiment müssen wir zunächst die schweren Teilchen erzeugen. Sie zerfallen in einen winzigen Bruchteil einer Sekunde im Detektor, das leichteste bleibt übrig.
Was sehen Sie im Experiment?
Das Higgs zerfällt in bekannte Teilchen - bevorzugt zuerst in das nächstschwerere Top-Quark, das wiederum in ein B-Quark zerfällt, und so weiter wie in einer Kaskade. Das B-Quark lebt bereits eine Picosekunde lang, in der es ein paar 100 Mikrometer fliegt und wir es in unserem Detektor sehen. Dann können wir zurückrechnen, was es vorher war. Allerdings entstehen diese anderen Teilchen im Beschleuniger auch direkt, ohne Higgs. Wenn wir etwa in einem bestimmten Energiebereich viele Ereignisse mit zwei Photonen sehen, vergleichen wir das mit dem Standardmodell, das vorhersagt, wie oft diese aufgrund der anderen Prozesse oder aufgrund eines Higgs-Zerfalls entstehen. Sehen wir einen Überschuss, könnte er vom Higgs sein. Wir suchen also in vielen Milliarden Ereignissen nach einigen wenigen, die von außen gleich aussehen, also nach einem winzigen Überschuss in einer gigantischen Datenmenge.
Und wo versteckt sich das Higgs-Teilchen?
Die Masse des möglichen Higgs liegt zwischen 100 und 600 GeV. Über dieser Grenze wäre es kein Standardmodell-Higgs mehr. Viele Bereiche in diesem Band haben wir jedoch bereits ausgeschlossen. Übrig bleibt das Fenster von 115 bis 127 GeV. Hier sehen wir möglicherweise einen sehr kleinen Überschuss. Wenn wir immer mehr solcher Ereignisse sehen, werden wir bis Ende 2012 das Higgs gefunden haben.
Es wurden auch Teilchen entdeckt, die schneller sein sollen als das Licht. Bricht dadurch Einsteins Relativitätstheorie zusammen, wonach kein Teilchen schneller ist als das Licht?
Diese Messung ist im Unterschied zur Abweichung, die auf das Higgs-Boson hindeuten könnte, statistisch eindeutig. Wenn sie sich bewahrheitet, bricht einiges zusammen. Meines Wissens nach gibt es keine Theorie, die Teilchen über Lichtgeschwindigkeit erwartet hätte. Die meisten Kollegen vermuten daher einen systematischen Fehler. Das Experiment hat die Messung veröffentlicht, damit alle gemeinsam nach dem Fehler suchen. Es soll in den USA und in Japan wiederholt werden.
Ist Licht 100-prozentig eindeutig definiert? Oder könnte es Licht-Teilchen geben, die zwar im Begriff "Licht" Platz hätten, sich aber etwas anders verhalten?
Photonen sind Licht. Ihre Geschwindigkeit wurde von vielen Gruppen extrem genau gemessen. Diese jüngste Messung wurde allerdings mit Neutrinos durchgeführt und nicht mit Licht. Die Messung an Neutrinos ist extrem schwierig. Milliarden von Neutrinos durchdringen jede Sekunde unseren Körper, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie sind neutral, tauschen keine Photonen aus und haben eine schwache Wechselwirkung. Im Unterschied zu Photonen mit ihrer elektromagnetischen Wechselwirkung durchdringen Neutrinos unbeschadet die Erde. Alle anderen Teilchen würden stecken bleiben.
Wenn diese Neutrinos schneller sind als das Licht, könnten wir durch sie angetrieben zu anderen, erdähnlichen Planeten reisen?
Wenn die Relativitätstheorie so nicht mehr richtig wäre, wären auch zeitliche Kausalitäten in Frage gestellt. Mit der Lichtgeschwindigkeit entwickeln sich Aktion und Reaktion. Würde sie überschritten, könnte eine Reaktion entstehen, bevor eine Handlung gesetzt wird. Das Physikgebäude wäre somit deutlich erschüttert. Derzeit gilt aber noch, dass sich die Zukunft mit der Geschwindigkeit des Lichtes entwickelt und ich keinen Ort beeinflussen kann, der weiter weg ist, als es der Lichtgeschwindigkeit entspricht.
Haben wir eine Chance, bei erdähnlichen Planeten wie dem jüngst bewiesenen, 600 Lichtjahre entfernten, warmen "Kepler 22b" zu Lebzeiten anzukommen?
An Reisen auf der Basis von Teilchen mit Überlichtgeschwindigkeit hat noch niemand gedacht. Dennoch zögere ich, ihre Frage zu verneinen, denn es gab schon viele unerwartete Entdeckungen, und seit dieser neuen Messung befassen sich manche Physiker mit Theorien, die Teilchen schneller als Licht vorhersagen könnten. Ideen, wonach wir in unserer Lebenszeit auf Planeten wie "Kepler 22b" ankommen könnten, beruhen derzeit noch auf Abkürzungen durch Wurmlöcher.
Welches Jahresbudget hat man am LHC?
Insgesamt beläuft sich das Jahresbudget auf eine Milliarde Schweizer Franken. Die Budgets setzen sich aus den Beiträgen der Mitgliedsländer zusammen, Österreich steuert 2,18 Prozent bei. Ein großer Teil der Mittel fließt über Aufträge in die Mitgliedsländer zurück. Diese Rückflussquote betrug für Österreich 2010 etwa zwei Drittel. Die Experimente müssen zusätzlich finanziert werden aus Förder-Anträgen.
Ist für die Teilchenphysik der LHC für lange Zeit das Nonplusultra? Oder plant man schon andere, größere Anlagen?
In den nächsten zehn Jahren ist der LHC das Nonplusultra. Aufgrund von langen Vorlaufzeiten muss allerdings schon jetzt über die nächste Generation an Teilchenbeschleunigern nachgedacht werden. Bis Sommer 2013 wollen wir im Rahmen der Europäischen Strategie der Teilchenphysik eine Roadmap ausarbeiten, anhand der wir erkennen können, welche nächsten Schritte am sinnvollsten sind. Und da wir davon ausgehen, dass die nächste Maschine wie der LHC ebenfalls nur einmal gebaut werden kann aus Gründen der Kosten und der Sinnhaftigkeit, findet hier seit Jahrzehnten eine weltweite Koordination statt.
Teilchenbeschleuniger dienen der Erkundung der Ursprünge des Universums. Es gibt Physiker, die behaupten, sie hätten Hinweise in der kosmischen Strahlung gefunden, dass es schon vor dem Urknall ein Universum gab. Was halten Sie davon?
Die einfachste Big-Bang-Theorie, wonach alles aus einem Ursprung entstanden ist, wird auch durch die Multiversen-Theorie in Frage gestellt. Zudem gibt es die These, wonach unser Universum eine Blase in einem Großen ist. Aber all das sind Spekulationen, weil unser derzeitiges Wissen keine Möglichkeit beinhaltet, Information von vorher zu bekommen. Wenn die Theorie stimmt, dass der Teil, den wir als unser Universum sehen, in einer Singularität entstanden ist - und sei es, dass wir in einer Blase leben - wie sollten wir Informationen von vorher bekommen?
Wie viel wissen wir bereits?
Wir wissen extrem viel - es ist beeindruckend, was der geistig beschränkte Mensch in diesen wenigen tausend Jahren herausgefunden hat. Wir können das Universum mit Lücken ab einem Zeitpunkt von zehn hoch minus elf Sekunden nach dem Urknall beschreiben, und wie es sich weiterentwickelt hat. Wir verstehen den Zusammenhang von den elementarsten Teilchen bis hin zu kosmologischen Ereignissen. Alles passt zusammen. Aus der Zeit vor dem Urknall ist hingegen nicht viel Information übrig, denn selbst die kosmische Hintergrundstrahlung bildet eine Zeit nach dem Urknall ab. Vorher war das Universum für Photonen undurchsichtig.
Manfred Krammer ist stellvertretender Direktor des Insituts für Hochenergiephysik (Hephy) in Wien und entscheidet als Vorsitzender des "European Committee for Future Accelerators" am Europäischen Forschungslabor für Teilchenphysik Cern die Zukunft der Teilchenphysik mit.