)
Der russische Politologe Dmitrij Trenin über Vergleiche der heutigen geopolitischen Situation mit dem Kalten Krieg und die Abnabelung Russlands.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung":Seit der Zuspitzung der Krim-Krise werden aufgrund der sich verschlechternden Beziehungen des Westens mit Russland immer wieder Vergleiche mit dem Kalten Krieg bemüht. Ist das Ihrer Meinung nach gerechtfertigt?
Dmitrij Trenin: Ich selbst habe lange davon Abstand genommen. Es gibt wohl in der Tat Analogien, aber auch Unterschiede. US-Präsident Barack Obama sagte kürzlich, dass Russland kein Global Player mehr ist, sondern eine Regionalmacht - und deshalb werde der Konflikt keine so zentrale Rolle spielen. Das stimmt. Aber das heißt natürlich nicht, dass die geänderte Situation nicht Auswirkungen auf wichtige internationale Beziehungen haben wird - inklusive derer mit China. Ideologie spielt heute, auch wenn es verschiedene Ansichten gibt, wie die Welt regiert werden sollte, im Gegensatz zum Kalten Krieg fast keine Rolle. Nach 25 Jahren, in denen versucht wurde, zu kooperieren, sind wir nun in eine neue Ära eingetreten, in der wieder der Wettbewerb im Vordergrund steht. Dieser neue Wettbewerb wird nicht so sehr von Nuklearwaffen bestimmt sein wie im Kalten Krieg, sondern vielmehr von den Gesetzen der Wirtschaft, Finanzen, Informationsflüsse und dergleichen. Nicht zuletzt ist es ein Unterschied, dass die neue Situation sehr asymmetrisch ist. Der Einsatz für Russland ist viel höher als für Europa, und noch einmal ungleich höher als das, was für die USA am Spiel steht.
Ist das auch der Grund für die Reaktion Russlands?
Für Russland geht es in der Tat um mehr als nur um die Ukraine. Diese ist eher der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte in den Beziehungen zum Westen, die immer angespannter wurden. Es sind die Fehler in dem postsowjetischen Settlement, von denen wir jetzt eingeholt werden.
Welche genau?
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten der Westen wie Russland Erwartungen. Der Westen erwartete, dass Russland nach einer gewissen Übergangsperiode eine Demokratie und eine Marktwirtschaft würde, wenn auch mit ein paar Eigenheiten. Und dass das Land einen Weg finden würde, sich in die westliche Gemeinschaft einzufügen - vielleicht nicht als vollwertiges Mitglied, aber als eines, das die Spielregeln und Hierarchien in dieser Gemeinschaft anerkennt. Russland wiederum erwartete, dass es mehr oder weniger gleichberechtigt inkludiert würde - vielleicht nicht auf der gleichen Höhe wie die USA, aber nur wenig darunter. Und nicht zuletzt gab es die Erwartung, dass man die Möglichkeit und das Verständnis seiner Partner hat, seine eigenen nationalen Interessen zu verteidigen. Meiner Meinung nach haben sich die Erwartungen auf beiden Seiten als falsch herausgestellt. Das ist wohl die wirkliche Ursache für das, was wir nun sehen.
Ist die Integration Russlands in die westliche Gemeinschaft gescheitert?
In den letzten 25 Jahren gab es mindestens drei Versuche von drei aufeinanderfolgenden russischen Präsidenten, das Land in den Westen zu integrieren. Erst bei Boris Jelzin, der im Dezember 1991 einen Brief an die Nato schrieb, dass Russland erwarte, bald ein Mitglied zu sein. Der Brief blieb unbeantwortet, und zwei Wochen später schickte man einen neuen und korrigierte, dass das ein Druckfehler gewesen sei und dem nicht so sei. Jelzin flog ein Jahr darauf nach Washington und schlug George H. W. Bush vor, ein Bündnis zu unterzeichnen. Bush meinte bloß, der Kalte Krieg wäre vorüber und man bräuchte keine Bündnisse mehr. Dann folgte eine Verschlechterung der russisch-westlichen Beziehungen durch die Nato-Erweiterung und die Geschehnisse im Kosovo.
Und als Wladimir Putin 2001 Amerika nach 9/11 seine Allianz vorschlug, stand George W. Bush dem anfangs wohlwollend gegenüber, aber er wurde sehr bald vom Irak-Krieg abgelenkt. Der letzte Versuch war 2010, als Dmitrij Medwedew mit Europa über eine Modernisierungsallianz und von einer gemeinsamen Raketenabwehr sprach. Das wurde aber vom Westen als verfrüht abgelehnt. Ich glaube nicht, dass es nach diesen drei Versuchen bald wieder einen vierten von russischer Seite geben wird. Die Zeitperiode, in der Russland bereit war, sich anderen anzuschließen, ist vorbei. Sie wollen nur sie selbst sein. Vielleicht ist das auch in Ordnung so und die richtige Art von Beziehung.
Aber der Westen alleine war wohl auch nicht schuld.
Natürlich kann auch der Westen eine Vielzahl von Fällen aufzählen, was mit Russland schrecklich schiefgelaufen ist. Angefangen von den Kriegen in Tschetschenien über politische Prozesse wie der mit Michail Chodorkowskij, die Fälle der Journalistin Anna Politkowskaja oder des Ex-KGB-Offiziers Aleksandr Litvinenko. All diese Sachen haben Putins Image beschädigt. So sind wir schließlich an dem Punkt angelangt, an dem wir sagen müsse: Wir haben versagt, Russland zu integrieren. Wenn wir jetzt konkret die Ukraine betrachten und die Fehler, die beide Seiten in der Krise gemacht haben, ist dies zu einem Großteil der Fortführung der Politik der letzten mehr als zwanzig Jahre geschuldet.
War die Reaktion Moskaus schon länger geplant?
Ich glaube, dass das, was auf der Krim passiert ist, bereits eine Zeit lang geplant gewesen sein muss. Das macht man nicht in der Eile, hier improvisiert man nicht. Die Pläne gab es wohl seit 2008, als der ehemalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko aktiv einen Nato-Beitritt suchte.
Die Ukraine hat sich ja bereits bei der Orangen Revolution 2004 von Russland wegbewegt. Moskau hat damals Fallschirmjäger auf die Krim geschickt, aber danach wurde es wieder ruhiger. Wieso ist die Reaktion diesmal so viel heftiger?
Die Orange Revolution war grundsätzlich ein von den verschiedenen, bereits vorhandenen ukrainischen politischen Fraktionen kontrolliertes Ereignis. Dieses Mal ist die Revolution - im russischen Verständnis - dominiert von politisch weit rechts stehenden Kräften, wobei zugleich die Westukraine versucht, Kiew und den Rest der Ukraine zu dominieren. Man muss sich bewusst werden, in welchem Ausmaß die russische Führung glaubte, dass die Menschen aus der nationalistischen Swoboda-Partei und dem Rechten Sektor den Maidan dominierten und in welchem Ausmaß diese Menschen selbst pro-faschistische Einstellungen haben. Viele hielten und halten das für Propaganda. Ich glaube, für Putin war das keine Propaganda, sondern Realität: Dass diese nationalistischen, neofaschistischen Elemente, die sich bisher außerhalb des politischen Spektrums befunden hatten, plötzlich Kiew und den Rest des Landes dominieren könnten - und schließlich die Ukraine in einen volatilen, anti-russischen Staat verwandeln.
Aber auch Putin hat sich geändert.
Ja, das hat er. Früher war er sehr pragmatisch, heute ist er fast romantisch. Er begann, über Russen und Ukrainer als ein Volk zu sprechen. Auch seine Aussage, dass Russland mit dem Westen seit dem 18. Jahrhundert rivalisiert und das der Westen schon vor dem Kalten Krieg versuchte, Russland und seinen Einfluss einzudämmen, hat großen Eindruck bei mir hinterlassen. Diese Aussagen beschreiben eine sehr neue Weltanschauung. Wenn man seine Aussagen von vor zehn Jahren liest, ja sogar noch, was er in München 2007 sagte - da sah er sich trotz manchen Dissens immer noch als Teil der größeren westlichen Familie. Heute nabelt er sich ab. Nach dem Motto: "Wir haben eine russische Kultur, ihr habt eine andere Zivilisation. So ist das Leben."
Glauben Sie, dass Russland weiter expandieren will? Erst kürzlich führte Moskau die erste Militärübung in der Arktis durch, zugleich baut es seinen Einfluss in Afghanistan plötzlich wieder aus.
Man muss anerkennen, wie niedrig das Level der russischen militärischen Leistungsfähigkeit war und immer noch ist. Die Ausrüstung ist nach wie vor sehr alt, die Militärs unterbezahlt und schlecht trainiert. Putin hat freilich entschieden, dies nach dem Georgien-Krieg 2008 zu ändern. Jetzt pumpt er Geld in das System, er will neues und besseres Equipment und, dass diese Kräfte etwas für seine Politik tun können. Wettbewerb ist für ihn die Hauptaktivität eines Staats, Kooperation ist das Resultat von erfolgreichem Wettbewerb. Erst trägt man also den Wettbewerb aus, und danach entscheidet man, welche Art von Kooperation man mit einem Staat eingeht. Das gilt vielleicht nicht so sehr in Bezug auf China oder Indien, aber sehr im Bezug auf den Westen und insbesondere die USA: Es ist der Kampf um die Kooperationsbedingungen. In der Arktis glaubt Putin wichtige Interessen zu haben, und dass hier der Westen sich gegen ihn verschwören kann - alle vier anderen Anrainerstaaten sind Nato-Mitglieder. In Afghanistan ist er sehr besorgt darüber, was nach dem Abzug der internationalen Truppen passiert, weswegen er Kabul die Hand reicht.
Ein russischer Twitter-Kommentar lautete: Es ist dieser ungute Moment, indem du realisierst, dass die einzige Möglichkeit, deinem Bruder Ukraine zu helfen, ist, im eigenen Land eine Revolution anzuzetteln. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Russen dem ukrainischen Beispiel folgen und sich gegen Putin auflehnen?
Putins Position ist stark. Viele Russen denken, dass mit der Krim eine historische Ungerechtigkeit korrigiert wurde. Seine Zustimmung in der Bevölkerung wird nicht so hoch bleiben wie jetzt, wie in allen Ländern hängt diese von sozioökonomischen Faktoren ab - und in diesem Bereich wird Russland nicht sehr gut abschneiden in naher Zukunft. Es wird Nöte geben, eventuell auch durch westliche Sanktionen verursacht. Die Menschen könnten sich also gegen Putin wenden. Aber dazu ist auch eine Alternative notwendig. Seit der Krim haben sich fast alle hinter Putin versammelt. Er hat sogar weniger Gegenspieler als zuvor - bekannte Oppositionelle wie Aleksej Navalnij haben sich für viele Russen selbst diskreditiert, indem sie etwa dem Westen Empfehlungen gaben, wer sanktioniert werden soll. Heute müsste Navalnij froh sein, sieben Prozent bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen zu erreichen - er hatte 27.
Russland wird sich also nicht erheben?
Nein. Nicht gegen Putin. Die Russen erheben sich, aber sie erheben sich mit Putin.