Die verheerenden Explosionen im Libanon treffen einen Staat, der schon zuvor politisch und wirtschaftlich verwundet war.
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So etwas haben sie noch nicht gesehen. Immer wieder aufs Neue beteuerten von Fernsehteams und anderen Medien befragte Libanesen, dass sie eine derartige Katastrophe wie die verheerenden Explosionen im Hafen von Beirut nie zuvor erlebt haben.
Dabei haben viele Libanesen schon viel Fürchterliches erlebt und gesehen: Von 1975 bis 1990 verwüstete ein Bürgerkrieg das Land und auch danach blieb die politische Lage äußerst instabil, gab es Morde und Attentate, bei denen zahlreiche hochrangige Politiker ihr Leben verloren haben. So hinterließ der Sprengstoffanschlag, durch den im Februar 2005 der einstige Ministerpräsident Rafik Hariri und weitere 22 Menschen getötet wurden, einen metertiefen Krater und beschädigte Hotelfassaden mitten in Beirut.
Aber so eine Vernichtungskraft wie am Dienstag ist noch nie über die Stadt gekommen: Die Druckwelle war derart gewaltig, dass sie Hochhäuser zerstört, Autos zertrümmert und Menschen zu Boden geschleudert hat. Stand Mittwochnachmittag waren 4000 Verletzte und mindestens 100 Tote zu beklagen, wobei diese Zahlen noch steigen werden. Nicht weniger als 300.000 Beiruter sind laut den Behörden plötzlich obdachlos.
Beispielloser Niedergang der Wirtschaft
Die Katastrophe traf ein Land, das bereits in Trümmern lag. Eine beispiellose Wirtschaftskrise hat den Libanon in den vergangenen Monaten erfasst. Nur die dünne Oberschicht blieb verschont, die Mittelschicht hat hingegen durch den Verfall des libanesischen Pfunds ihre Ersparnisse verloren. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind rapide gestiegen und Strom gibt es oft, auch wegen Korruption in den zuständigen Behörden, nicht länger als zwei Stunden am Tag.
Die Krankenhäuser waren schon vor der Explosionskatastrophe massiv überfordert. Selbst in den Privatspitälern mangelt es mittlerweile an Personal und Medikamenten, und auch die Corona-Krise ging mit knapp mehr als 5000 bestätigten Fällen nicht spurlos am Land vorbei. Und nun müssen noch all die Schwerverletzten von den Hafenexplosionen versorgt werden.
Inwieweit und ob überhaupt sich der Libanon, der mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, wieder aufrichten kann, ist fraglich. "Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanons und für das Land im Allgemeinen", sagt der Analyst Makram Rabah von der Amerikanischen Universität Beirut. Für den Wiederaufbau ihrer Häuser fehle den Menschen das Geld. Da am Hafen Getreidesilos zerstört worden seien, müsste das Land jetzt mit Hunger und Engpässen bei Brot rechnen.
Die Wut auf die politischen Eliten und die unfähige Verwaltung des Landes ist schon lange groß und könnte durch die Explosionen noch einmal steigen. Auch wenn die Ursache für die Katastrophe noch nicht restlos geklärt ist, gingen die Behörden am Mittwoch davon aus, dass 2750 Tonnen Ammoniumnitrat detoniert seien. Ammoniumnitrat kann für Düngemittel oder zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden. Offenbar war es seit 2014 vollkommen ungesichert im Hafen gelagert worden. Wenn das stimmt, wäre dies ein fürchterliches Beispiel dafür, wie Korruption, Nachlässigkeit und Ignoranz das Land zugrunde richten.
Libanons Regierung hat nun einen zweiwöchigen Ausnahmezustand für die Hauptstadt ausgerufen. Wie Informationsminister Manal Abdel Samad am Mittwoch ankündigte, wurde die Verantwortung für die Sicherheit in der Stadt mit sofortiger Wirkung der Armee übertragen. Die Regierung rief die Militärführung zudem auf, die für das Unglück verantwortlichen Beamten unter Hausarrest zu stellen. Die Maßnahme müsse für alle gelten, die für die Lagerung des Ammoniumnitrats im Hafen von Beirut zuständig gewesen seien.
Zudem hat der Libanon international um Hilfe gebeten - und wird diese auch von vielen Staaten erhalten, die bereits Zusagen gegeben haben. So hat etwa Frankreich bereits Militärmaschinen mit medizinischem Material losgeschickt.
Klientelismus und Feindschaften prägen Politik
Sonst war die internationale Gemeinschaft zuletzt sehr zurückhaltend mit ihrer Unterstützung für den Libanon. Zu reformunwillig schien die politische Elite, weshalb auch der Internationale Währungsfonds keine Kredite gewähren wollte.
Die Macht wird in dem multikonfessionellen Land nach einem komplizierten Proporzsystem zwischen Christen, Schiiten und Sunniten aufgeteilt. Doch fast sämtlichen poltischen Fraktionen, in denen sich immer wieder Superreiche finden, ist gemeinsam, dass sie Klientelismus über das Allgemeinwohl stellen.
Zudem sind die Lager teilweise schwer miteinander verfeindet. Das zeigt beispielhaft der Mordfall Rafik Hariri. An diesem Freitag will das UNO-Libanon-Sondertribunal in Den Haag sein Urteil in dem Fall verkünden. Angeklagt in Abwesenheit sind vier Mitglieder der schiitischen Hisbollah, die im Libanon Teil der Regierung ist. Viele Libanesen machen auch das Nachbarland Syrien, dessen Diktator Bashar al-Assad mit der Hisbollah verbündet ist, für den Anschlag verantwortlich. Die Vergangenheit lastet in einer immer katastrophaler werdenden Gegenwart schwer auf dem Libanon.