)
Osama bin Ladens Aufzeichnungen aus Abbottabad offenbaren sehr viel über das Denken und das Seelenleben des getöteten Terroristenführers.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Was die Dokumente aus Osama bin Ladens Versteck so fesselnd macht, ist die Art, wie sie dem Leser erlauben, ins Denken des Meisterterroristen einzudringen. Ich habe nur eine kleine Auswahl der tausenden Notizen gesehen, die in der Nacht des 2. Mai 2011 mitgenommen wurden. Aber auch durch diese wenigen Dokumente bekommt man eine Vorstellung vom Weltbild Bin Ladens in den Jahren vor seinem Tod.
Wie der Löwe, wenn es Winter ist: Bin Laden versteckte sich in einem Lager im pakistanischen Abbottabad, verschaffte sich Bewegung im Hof, schaute fern, diktierte seinen Frauen Mitteilungen. Er war ein introspektiver Muslim und zugleich ein Mann von Welt, der versuchte, ein weltweites Terrornetzwerk am Laufen zu halten.
Bin Laden lebte in einer eingeengten Welt, in der er und seine Mitarbeiter von den USA so schonungslos gejagt wurden, dass sie kaum die notwendigste Kommunikation aufrechterhalten konnten. Er wollte retten, was noch von seinem Netzwerk übrig war, indem er es aus der Beschusszone in den pakistanischen Stammesgebieten wegzubringen trachtete.
Dieser Evakuierungsauftrag stammt aus dem aufschlussreichsten Schriftstück, das mir gezeigt wurde, einer umfangreichen 48-seitigen Weisung an Atiyah Abd al-Rahman, Bin Ladens Generalstabschef. Überall grübelt der Terrorpate darin, ob die Al-Kaida ihre Aufgabe des Dschihad verfehlt habe. Er ruft die Erinnerung an die glorreichen Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wach. Sofort wendet sich der Al-Kaida-Führer aber schmerzlichen Gedanken über Fehler zu, die seine Anhänger gemacht hätten, besonders das Töten von Muslimen im Irak.
Bin Laden wies auf Maßnahmen zur Überwachungsabwehr hin. Er warnte davor, mit Journalisten zu sprechen, dass zum Beispiel ein Tracking-Chip angebracht und man "unfreiwillig überwacht" werden könnte, "entweder am Boden oder vom Satelliten aus". Und er warnte diejenigen, die in den Iran reisten, alles wegzuwerfen, was von dort stamme, da man den Iranern nicht trauen könne. Sie würden Lausch-Chips einpflanzen, "so klein, dass sie sogar in eine Injektion passen".
Der Terroristenführer wollte einen großen Schlag, ganz wie ein Boxer in den letzten Runden, der weiß, dass er verliert, aber immer noch auf ein K.o. hofft. An einer Stelle trug Bin Laden Atiyah auf, zehn Brüder fliegen lernen zu lassen und sich bereitzuhalten, Selbstmordaktionen und "gewagte, wichtige und präzise Missionen" zu unternehmen.
Gegen Ende seiner langen Nachricht an Atiyah sprach Bin Laden über seinen Sohn Hamzah und den Wunsch, den jungen Mann als Religionsgelehrten auszubilden, damit er "die rund um den Dschihad aufgekommenen Irrtümer und das Misstrauen widerlegen" könne. Der Tonfall ist fast der eines Mannes, der spürt, dass das Ende nah sein könnte, und der hofft, sein Sohn werde seinen Namen reinwaschen.
"Wir nähern uns einem Stadium, in dem Engstirnigkeit tödlich ist", schrieb Bin Laden auf der vorletzten Seite. Das war wahrer, als er wusste.
Übersetzung: Redaktion
Originalfassung "A lion in winter"