Die im türkis-grünen Regierungsprogramm enthaltene Ausstiegsklausel steht für den wahrscheinlich lockersten Koalitionsvertrag der Zweiten Republik.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Bereits die Präsentation des ersten Ministerrats durch Gernot Blümel und Werner Kogler zeigte eine Hierarchisierung. Indem der Machtakrobat Sebastian Kurz (ein Titel, den ihm das Magazin "Der Spiegel" verliehen hat) sich den Fragen der Journalisten entzog, erhöhte er sich und platzierte sich zwischen Regierung und Bundespräsidenten. Der als Bundeskanzler wiedererweckte Regierungschef hinterließ in den Medien die durch das Flüchtlingskapitel im Regierungsprogramm markierte Duftnote einer Fortsetzung seiner Mitte-rechts-Politik.
Die Grünen unter Werner Kogler werden da nicht groß opponieren, sondern ohne viel Getöse die Caritas-Position vertreten. Auf der Konkurrenzbühne, wohin die neue Superministerin Leonore Gewessler schon mit dem schlichten Zweirad fuhr, werden sie sich alternativ präsentieren: mit der Verwirklichung einer Klimaschutz-Forderung, dem 12-Euro-Aufschlag bei Kurzstrecken-Flugbuchungen und der Öko-Maut für schweres Gefährt.
Zeitungen und Magazine haben sich schon vorab und ohne Absprache auf einen Vorsichtstitel für die neue Koalition geeinigt. "Das Experiment" nannte es "profil" und verbannte den mutigeren Satz ". . . die große politische Wende?" in die Unterzeilen, weil die Formulierer die blaue Gefahr offenbar noch nicht für gebannt halten.
Im Unterschied zu den Akteuren beim gescheiterten Schwarz-Grün-Versuch vor 18 Jahren saßen der ÖVP diesmal nur wenige ausgesprochen linke Grüne gegenüber. Die meisten Verhandler stammen aus den katholischen Biotop-Gefilden von Vorarlberg, Salzburg, Oberösterreich und der Steiermark, wo sich unbemerkt von großen Teilen der Wiener politischen und publizistischen Elite grüne Inseln und Oasen gehalten haben. Viele von ihnen haben die vom ehemaligen Vizekanzler Josef Riegler (ÖVP) propagierte und von dessen Nach-Nachfolger Wolfgang Schüssel wieder versenkte "Öko-soziale Marktwirtschaft" zumindest als Jeansgürtel oder Trachtenjanker weitergetragen. An Wochentagen sind sie Banker, IT-Fachleute oder Philosophen, am Wochenende Schwammerlsucher mit dem Hugo-Portisch-Ratgeber unterm Arm.
Koglers falsche Toleranz
In der Regierungsarbeit ist für die Grünen das Bodenständige wichtig, man könnte es plakativ auch den "Schutz der Schöpfung" nennen. Eine Bibel ist das Koalitionsabkommen deshalb aber nicht. Dazu ist Kogler, wie man aus den ersten Interviews bereits schließen konnte, viel zu ländlich, man könnte auch sagen: bauernschlau. Daher auch seine falsche Toleranz im Umgang mit dem Vertragspassus, dass Kurz den Pakt suspendieren kann, um bei einem Flüchtlingskonflikt mit den Freiheitlichen zu stimmen. Diese ideologische Nachgiebigkeit wird von der strikten deutschen Schwester- und Bruderpartei überhaupt nicht goutiert - diese wettert gegen die prinziplosen Österreicher.
Diese Ausstiegsklausel steht überhaupt für den wahrscheinlich lockersten Koalitionsvertrag der Zweiten Republik. Bisher war es so: Wenn ein Gesetzentwurf zwischen den Parteien ausverhandelt war, wurde er gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Nun aber könnte es sich folgendermaßen abspielen: Nach einem bühnenreifen "Durchbruch" und einigen Infos aus den Kulissen geht das Gesetz in Begutachtung und gelangt nach wochenlangen (Medien-)Debatten zur Abstimmung. Die hauptverantwortliche Partei präsentiert das Vorhaben, der jeweilige Partner (bei der Flüchtlingsfrage Grün, bei Klimaabgaben Türkis) muss mitstimmen, sonst zerbricht die Koalition.
Kanzler Kurz setzt darauf, mit seiner Akrobatik und seiner einfachen Marketingsprache die türkisen Projekte (oder Luftblasen) der Bevölkerung besser verkaufen zu können als der mit seiner Sowohl-als-auch-Rhetorik an Bruno Kreisky erinnernde Vizekanzler Kogler. Wo Kurz zusammenfasst, zerredet Kogler, wo Kurz durch die städtischen Straßen turnt, findet Kogler in der immer gleichen Heide nur schwer einen Ausgang. Aber auch das kommt an. In den beiden findet die momentane österreichische Gesellschaft ihre beiden wichtigsten Ausdrucksformen: auf der einen Seite der Kanzler, von oben bis unten ein Versandkatalog oder gleich eine ganze Einkaufsstraße; auf der anderen Seite der Vizekanzler als eine Figur aus den Landtierärzte-Serien und als Verfechter eines Mängelkatalogs auf dem Weg zu einem erfüllteren Leben.
Umgruppierung der Ministerien
Hinter dieser zweifelsfreien Darstellung von großen Ausschnitten des realen Lebens findet eine Umgruppierung im Regierungsapparat statt:
Wer hätte vor einem Jahr noch daran gedacht, dass es binnen eines Jahres in der Bundesregierung mehr Frauen als Männer geben würde? Angestoßen hat das die nun abgetretene Regierungschefin Brigitte Bierlein, mitgetragen hat es Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
Die Bierlein-Regierung war keineswegs ein Übergangskabinett. Sie hat Österreichs Rechtsgefüge wieder auf gerade Bahnen gebracht. Ganz zuletzt wurde von Innenminister Wolfgang Peschorn ein Medienerlass seines Vorgängers Herbert Kickl (FPÖ) aufgehoben - ein Versuch, das Medienverhalten ein Stück weit Richtung Polen und Ungarn zu verschieben. Die Aufhebung mehrerer zentraler Gesetze von Türkis-Blau durch den Verfassungsgerichtshof war ebenso ein notwendiger Eingriff, wenngleich durch eine übergeordnete Instanz.
Die Ministerien selbst werden zu einem großen Teil völlig neu aufgestellt. Vor allem optisch. Noch nie in der Zweiten Republik hat es eine Verteidigungsministerin gegeben. Ein Ministerium, nämlich das für Landwirtschaft, wird in ein Technikressort für den ländlichen Raum umfunktioniert. Das Verkehrsministerium ist kein Bautenressort mehr (das macht die Asfinag), sondern ein Ministerium für das Klimamanagement.
Das Justizministerium wird von einer hochqualifizierten Frau gelenkt, die familiär aus dem altösterreichischen Raum stammt und daher von diesem Erbe auch beeinflusst ist. Dass die FPÖ dagegen polemisiert, zeigt deren deutschnationale Verwurzelung.
Dass man die Kultur im Machtmaßstab wieder zurückgestuft hat, zeigt erneut das Fremdeln der Grünen mit experimentellen urbanen Entwicklungen.
Jeder Fortschritt birgt Experimentelles. So auch diese Bundesregierung. Ihr Wert wird daran zu messen sein, wie viel sie weiterbringt. Ihre Zusammensetzung aber spiegelt jetzt schon das Bemühen wider, die Struktur der Bevölkerung in ihre Arbeit zu integrieren und vor allem eines: die "Wiederentdeckung des Kontinents Österreich" (von Friedrich Heer 1974 im Buch "Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte" des US-Historikers William M. Johnston formuliert).