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Der Mai kam, die Zahlen fielen

Von Simon Rosner

Politik

Im Frühjahr sind etliche Befürchtungen ausgeblieben und zuletzt fiel die Corona-Inzidenz stark. Warum? Eine Nachfrage.


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Am Montag meldeten die Bundesländer nicht einmal 400 Neuinfektionen. Die Sieben-Tages-Inzidenz in Österreich ist zu Pfingsten unter 50 gefallen. Das heißt, so viele Neuinfektionen gibt es derzeit durchschnittlich innerhalb von sieben Tagen pro 100.000 Einwohner. Das war zuletzt Mitte September der Fall. Österreich hat die Corona-Musterländer Dänemark und Norwegen mittlerweile klar überholt.

Es ist schon recht schnell gegangen. Denn vor nicht einmal einem Monat waren die Intensivstationen, speziell in Ostösterreich, noch voll, und die Situation war überaus heikel. Es drohte damals nach wie vor eine Überlastung. Ärzte warnten fast täglich in den Medien. Dennoch entschied das Burgenland am 14. April, den Lockdown zu beenden. Es hagelte Unverständnis. Etliche Experten verwiesen - auch in der "Wiener Zeitung" - auf das extrem hohe Risiko einer solchen Entscheidung. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, selbst ausgebildete Epidemiologin, erklärte, für eine Öffnung sei es noch zu früh, und der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) hätte die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.

Was als scheinbar sicher galt, trat aber nicht ein - dafür Doskozil erbost von seiner Funktion in der Bundespartei zurück. Das hatte also auch politische Konsequenzen. In Wien und Niederösterreich, die länger im Lockdown waren, entspannte sich die Situation ebenso. Fast überall in Österreich sank die Inzidenz, ab Ende April dann sogar sehr rasch. Nur in Vorarlberg, wo im März gewisse Öffnungen vorweggenommen wurden, stieg die Fallzahl an. Die Lage in den Spitälern blieb aber auch dort stabil. Im Ländle passierte also auch nicht, was viele kommen gesehen hatten.

Nun stellt sich die Frage: Warum? Es ist nicht das erste Mal in dieser Pandemie, dass Befürchtungen nicht eintraten. Umgekehrt heißt das aber nicht, dass die Befürchtungen nicht dennoch berechtigt waren. Das in den vergangenen Monaten oftmals zitierte "Fahren auf Sicht" ist keine gute Metapher, denn die wissenschaftliche Gewissheit, also der Durchblick, hinkt der pandemischen Realität mitunter zeitlich nach.

Starker saisonaler Effekt

Der Simulationsforscher Niki Popper war einer jener Wissenschafter, die im März recht optimistisch waren, dass die Fallzahlen einige Wochen nach Ostern deutlich sinken würden und die heikle Akutphase vorbei sein werde. Er war damit zwar nicht alleine, es gab aber eben auch andere fachliche Einschätzungen. Popper gewichtete, basierend auf seinen Modellen, den saisonalen Effekt recht stark. Dem gegenüber waren vor allem Virologen, zum Beispiel auch der deutsche Corona-Forscher Christian Drosten, viel skeptischer. "Wir haben keinen Grund, auch anhand von realen Gegenbeobachtungen in wärmeren Ländern, zu der Annahme, dass wir hier mit einem saisonalen Effekt rechnen können", sagte Drosten im NDR-Podcast Anfang März.

Und dafür gab es auch hinreichend Argumente: In Indien begann im März die große Welle, und im vergangenen Sommer war es im heißen Süden der USA zu einer Phase der Hochinzidenz gekommen. Und das sind nur zwei Beispiele. Auch in Europa ist das Bild nicht eindeutig, da derzeit in Dänemark und Belgien die Fallzahlen wieder leicht ansteigen, zuletzt war das auch in Griechenland und Norwegen zu beobachten. In Österreich ist der saisonale Effekt dagegen stark ausgeprägt zu sehen. Wie Popper ausführt, kann nämlich der Impffortschritt noch nicht der Grund dafür sein, dass die Fallzahlen in den vergangenen Wochen so stark abnahmen.

Auch der Komplexitätsforscher Peter Klimek, der, wie Popper, dem Prognosekonsortium des Gesundheitsministeriums angehört, spricht von "regional unterschiedlicher Saisonaliät". Die Gründe dafür sind allerdings unklar. Nur an den Temperaturen und an der UV-Strahlung kann es offenkundig nicht liegen. Popper vermutet auch soziale Dynamiken. Wenn es in Texas oder Louisiana sehr heiß wird, gehen die Menschen beispielsweise eher hinein als hinaus, weil es ohne Klimaanlage schwer erträglich ist.

Gewichtung und Ursachen für den saisonalen Effekt sind zwei Fragestellungen, denen sich die Wissenschaft noch ausführlich widmen muss. Aber auch die Effektivität der diversen politisch gesetzten Epidemie-Maßnahmen ist nicht ganz einfach zu taxieren. Als Österreich etwa in der Vorweihnachtszeit vorübergehend wieder die Geschäfte und Schulen öffnete, nahmen die Fallzahlen trotzdem, und entgegen den Befürchtungen einiger, weiter ab. Nicht mehr so stark wie davor im vollen Lockdown, aber der erneute Anstieg passierte erst nach Weihnachten. Übrigens von Bundesland zu Bundesland auch unterschiedlich.

Wie man heute, auch auf Basis von Abwasseruntersuchungen vermutet, dürfte die infektiösere britische Variante schon seit Anfang Dezember in Österreich unterwegs gewesen sein. Welche Rolle diese Mutation, welche die Advent-Öffnungen und welche familiäre Weihnachtsfeste beim Wiederanstieg der Fallzahlen spielten, lässt sich nicht festmachen. Durch Weihnachten ist es, im Gegensatz zu einigen anderen Ländern in der EU, in Österreich aber nicht zu einer Explosion gekommen. Durch die Warnungen? Durch die Tests?

Die Teststrategie als Pyrrhussieg

In der zweiten Winterhälfte hat Österreich deutlich mehr als andere Länder auf das Testen gesetzt. Die Hoffnung war, durch die kostenlosen Tests und später die Schul- und Betriebsscreenings genügend Infektiöse herauszufischen, um die Fallzahlen zu senken. Das ist nicht gelungen. Es sei aber dennoch kein Misserfolg gewesen, sagt Popper. Durch die Maßnahmen und die Screenings habe man in der Phase der zunehmenden Verbreitung von B.1.1.7. nur einen langsamen Anstieg der Inzidenz gehabt, in Tschechien, der Slowakei, in Portugal und in Irland ging es dagegen sehr plötzlich durch die Decke. Es war ein ganz anderer Verlauf. "Es war ein Pyrrhussieg", sagt Popper heute. Denn während man in Irland oder Portugal mit ganz harten Maßnahmen antwortete und auch antworten musste, hoffte man in Österreich lange, dass es sich noch gerade ausgeht mit der Intensiv-Kapazität. Im Osten des Landes tat es das nicht.

Die übrigen Bundesländer blieben im teilweisen Lockdown, konnten also Handel und Schulen weiter offen halten. Und dennoch blieb die Überlastung der Spitäler aus. Warum? Interessant sind in diesem Zusammenhang Beobachtungen im Rahmen einer internationalen Studie über das Kontaktverhalten von Haushalten während der Pandemie. In Österreich kam es mit den Lockdown-Maßnahmen im Osten zu einer deutlichen Reduktion der Kontakthäufigkeit - so weit so logisch. In Bundesländern ohne diese restriktiven Maßnahmen war der Effekt aber ebenso zu beobachten. Der Grund dafür bleibt vorerst der Interpretation überlassen, es könnte aber darauf hindeuten, dass die Thematisierung der Lage auf den Intensivstationen, das Alarmschlagen von Medizinern einen größeren Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat als der offene Handel.

Und es könnte auch eine Erklärung sein, warum es im Burgenland gut gegangen ist. Denn der Alarmknopf für die gesamte Ostregion blieb ja auch danach quasi gedrückt. Hätten aber Wien und Niederösterreich gleichzeitig aufgemacht, hätten sich die Medienberichte um das Comeback-Shoppen in der SCS statt um volle Intensivstationen gedreht, wer weiß, ob es dann im Burgenland nicht doch anders verlaufen wäre.

Auch nach mehr als einem Jahr Pandemie und rund 130.000 internationalen Studien zu Corona sind noch viel zu viele Fragen ungeklärt, um genau zu wissen, welche Strategien und Maßnahmen zu welcher Zeit den größten Nutzen haben, zumal sich, etwa durch neue Varianten, jederzeit die Parameter ändern können.

Als es wärmer wurde, fielen die Infektionszahlen. Warum?