Zum 80. Geburtstag von Hermann Nitsch: Reflexionen über seinen radikalen künstlerischen Umgang mit Blut.
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Dieser Künstler pflegt von sich zu sagen, dass er schon alt war, als er achtzehn war, und sich immer schon älter fühlte als seine Freunde. Das 21. Jahrhundert wird nicht um ihn, sondern um das Mobiltelefon herum gebaut. "Dieses ganze Gedränge der Technik, da mache ich nicht mit", sagt Nitsch. "Ich lehne die Neuen Medien zwar nicht ab, bin aber gegen ihren Missbrauch. Man sitzt heute da, jeder seine Gehirnprothese in der Hand, und spricht gar nicht mehr miteinander. Es kommt kein ekstatischer Augenblick zustande, keine Totalidentifizierung mit dem Ganzen."
So kennen wir ihn: scharfe Soseinserfassung und die unversehrte Bereitschaft, zu feiern. "Wir haben viel mehr Energie zur Verfügung, als wir ausleben können. Mein Theater analysiert das ohne Worte, es bewirkt direktes sinnliches Erleben und macht das Verdrängte durch die Form bewusst."
Nitschs freudig bejahende Haltung in Bezug auf das Leben ist sprichwörtlich. Von Altersruhe keine Spur; der Mann schreibt, malt und komponiert ohne Unterlass. Die Museen in Mistelbach und Neapel müssen gefüllt, das Sechstagespiel muss institutionalisiert werden. Seine 135. Aktion lieferte er im Jahr 2012 in Kuba ab, die 150. Aktion im fernen Tasmanien.
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"Ich habe das ganze Leben um das Gesamtkunstwerk gerungen und kollektive Mythen bearbeitet. Das breite Publikum realisiert bis heute nicht, dass ich dabei mit Partituren vorgehe. Ich hoffe sehr, dass die später einmal wie ,Wallenstein‘ und ,Faust‘ gelesen werden."
Schicksalsschläge
"Meine Theateridee mündet darin, dass es kein Theater mehr gibt, dass meine Tragödien sich überall ereignen könnten, in Weingärten, am Meer, im Gebirge, im Turnsaal, in der Kirche, selbst im Theaterbau."
Aktionsfotos zeigen rotbesudelte Nackte. "Alle Lebensbejahung steht dem Tod gegenüber und muss das Tragische integrieren." Nitschs "unspielbare Partituren" bilden eine eigene, furchterregende Gattung. Da kochen Homosexuelle in Priestergewändern Hurengedärme, und Hitlerreden ertönen über Betten im Schlachthaus. "Wolllust", lehrt Nitsch, "kann nur über den Weg des tiefsten Ekels begriffen werden." Sadomasochismus sei "Lust in tiefster Form".
Der Hang zum Tragischen wird verständlicher, wenn man sich die gemischte Lebensbilanz des Künstlers vor Augen führt. Bis er 25 Jahre alt war, nächtigte der "Bua" im Bett seiner Mutter; sein Großvater zeichnete mit ihm Eisenbahnen; und wie Sigismund Schlomo alias Freud, besuchte er regelmäßig Verwandte in Prinzendorf an der Zaya. "Als bei einem Bombenangriff die Großmutter Marillenknödel gekocht hat, weigerte sich der Großvater in den Luftschutzkeller zu gehen, und aß weiter, während die Treffer rundherum alles zerlegten."
Von Freud übernahm Nitsch - anders als Otto Muehl - das dynamische Modell der schöpferischen Sublimierung: Schläft die Begierde, erwacht das Entzücken. In Prinzendorf fiel unverhofft das Schloss, "eine Wahnidee", um den Grundpreis in seine Hände. Zu den großen Glücksfällen des Lebens zählt auch Adoptivsohn Leo Kopp, Physiotherapeut in München, den Nitsch zur Fortsetzung des "Existenzfestes" post mortem autorisiert hat.
Die schwersten Schicksalsschläge: die Scheidung von seiner ersten - und der Unfalltod seiner zweiten Frau, Beate. "Das hat mich durchgebeutelt", seufzt Nitsch. Alles andere - Gefängnisstrafen, Mordverdacht, Berufsverbot, Exil, endlose Anfeindungen, Millionenraub, Steuerskandal; 1975 provozierte er eine Straßenschlacht in Paris, 1998 überstand er Sabotageakte in Österreich - alles halb so schlimm wie der Verlust geliebter Menschen. "Das ist nicht zu vergleichen! Schwarzkogler, Roth, Wunderlich: mir gehen sie alle ab, die nicht mehr sind."
Blutige Brieftasche
Nitsch, der unsichtbare Vater der Lazarett-Visionen. Der Krieg ist lange vorbei, doch nicht in seiner Seele. Als der Vater 1944 aus dem Feld nicht mehr heimkam, händigte ihm die Mutter als einzige Hinterlassenschaft seine blutverkrustete Brieftasche aus. Wie Rudolf Schwarzkogler das verlassene Arztbesteck seines Vaters in Collagen einfügte, so setzt Nitsch die rote Signatur der Epoche. "Diese Brieftasche hat mich damals tief getroffen. Sie ist später durch meine Unfähigkeit im Archiv verschwunden, was mich sehr unglücklich macht."
Braucht es überhaupt noch ein weiteres Wort, um die lebenslange Blutobsession dieses Mannes zu verstehen? Ist dieses Erbstück nicht der Schlüssel zum selbstquälerischen Leiden der Aufbahrungsszenen und zur feierlichen Pracht der Schüttbilder?
Die Psychoanalyse hat herausgefunden, dass Künstler, mehr als andere Menschen, einen instinktiven Zugang zum Unbewussten haben; also zeichnet Nitsch berückende Städte unter der Erde, in denen Blut durch Kanäle strömt. Ein seinstrunkener Schwamm sucht nach Geborgenheit in einem möglichen Ganzen, will "tiefgehende Existenzvergeistigung" herstellen und im Rausch zurückkriechen in die Geborgenheit des Mutterleibes.
Fast alle Interpreten folgen dieser irdischen Erlösungsutopie. Den wenigen, die ihr widersprachen, wie Schriftsteller Ferdinand Schmatz im Jahr 1988, sprangen die Aktionisten sofort an die Gurgel. Falls die Kunst die Realität widerspiegelt, vermag sie grundsätzlich auch über die Intentionen des Künstlers hinaus etwas Richtiges zu sagen. Meine These lautet, dass die archaische Formensprache des Orgien-Mysterien-Theaters heute eine dramatische Aktualisierung durch eine Reproduktionsmedizin erfährt, die sämtliche Werte der menschlichen Gemeinschaft auf den Kopf stellt.
Warum rankt sich ein nie versiegender Fluss von Mythen und Glaubenslehren um das Blut? Weil es dank seiner metonymischen Möglichkeit, Körpersaft und rote Farbe zu sein, eine spezifisch mediale Funktion der Kultur übernimmt. Es kann für eine Politik des Lebendigen wie des Todes stehen.
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In der Vergangenheit bestimmten allein Abstammungsgemeinschaften, wer dazu gehörte und wer nicht. Die patriarchalische Einzelfamilie mit männlicher Abstammungsrechnung wurde zur erfolgreichen wirtschaftlichen Einheit der Geschichte. Genealogie und Geschlechterabfolge der Familien, der Clans, der Völker und schließlich der Nationen verbürgten, dass rechtes Leben sich dort vollzog, wo man am Blut des Ursprungs teilhatte.
Erregendes Material
Vor diesem Hintergrund stieg das Interesse an der beweisbaren väterlichen Abstammung der Kinder als potenzielle Erben. Wenn alle Religionen Blutreligionen sind, so deshalb, weil in ihnen das Verhältnis zur Abstammungsgemeinschaft formuliert wird.
Der Aufbruch aus dieser langen Menschheitsepoche vollzog sich mit Sozialsystemen, die den Einzelnen weitgehend unabhängig von Blutsbanden gemacht haben. Die Romantik überhöhte den Saft noch einmal ästhetisch, und dem dröhnenden Kampf zweier Jahrhunderte gegen die Vatergesellschaft folgt nun in unseren Tagen der tendenzielle Tod der biologischen Elternschaft.
In Europa kommen im Jahr 2050 auf ein Kind acht über 65-Jährige; einen kollektiven Willen zur Familiengründung gibt es nicht mehr. Mit der Kryokonservierung (der Aufbewahrung der Zellen durch Einfrieren in flüssigem Stickstoff) trennt sich die Fortpflanzung vom Alterungsprozess ab. In Zukunft werden sich Frauen in jungen Jahren Eizellen entnehmen lassen; Männer lagern Spermien ein und lassen sich danach sterilisieren. Empfängnisverhütung wird somit überflüssig. Und keimt irgendwann doch noch der Wunsch nach Kindern, besorgen die Reproduktionsmediziner eine In-vitro-Verschmelzung der gesundgebliebenen Keimzellen und Frauen tragen - auch lange nach der Menopause - ihr Wunschkind aus.
Nitsch bringt das Rot als erregendes Material des Unbewussten zum Sprechen. Sein Rot erscheint vor den praktischen Möglichkeiten von Biochemie, Genomforschung und Reproduktionsmedizin wie ein kultureller Abgesang auf die sanguinische Welt. Das Schüttbild symbolisiert perfekt unseren Eintritt in die Ära des Bionuklearismus, der die Blutsbande durch neue technische Bande ablöst.
Kostbares Zeichen
Zählt man all das Leinwandblut, das durch die Studios in Hollywood fließt, den Wein der Wandlung und die Plasmaindustrie zusammen, ist das Lebenselixier heute präsenter denn je. Doch die mühsam darum herum etablierten Rechts- und Sozialbeziehungen zerfallen: Verwandtschaft verblasst, Staatsbürgerschaft wird erworben, Gesundheit sauber und schmerzfrei. Allein die Kunst geht noch barfuß, quert die Grenzen vom Heiligen zum Profanen und spricht in kostbaren Zeichen.
Es stimmt, Nitsch zeigt in seinen Mysterienspielen Blutbesudelte auf Bahren, bandagierte Gliedmaßen, verschmutzte Moulagen, quellende Gedärme. Das ist der Anblick, der Georg Trakl in Grodek um den Verstand gebracht hat.
Nitsch choreografiert mit Sitzstreck-, Kreuztrag-, Strecktrag- und Schrägtragbahren die Wiederkehr der antiken Tragödie, in der es von Verstümmelten, Gestraften und Geblendeten nur so wimmelt. Aber das ist nicht alles! Die schauerlich-erregenden Stunden im Bombenkeller sind erzählt; die seinsontologische Lesart dieser Kunst ist ausbuchstabiert.
Das kommende Urteil über Nitsch wird lauten, dass sein Treiben ein überraschendes Schlaglicht auf eine Revolution der Körpergeschichte geworfen hat. Das bestätigen inzwischen andere international erfolgreiche Künstler, die sich mit Blut beschäftigt haben: Ana Mendieta, Bob Flanagan, Franko B, Teresa Margolles und Kira O’Reilly.
1962 trat Nitsch genau zu dem Zeitpunkt auf den Plan, als Yves Klein schockiert war von seinen eigenen Malversuchen mit Blut an Stelle der blauen Farbe. Am 28. Juni beschüttete er im Wiener Perinetkeller eine zwei mal neun Meter lange Leinwand mit roter Farbe und Blut.
Nun schlägt der Herzton dieser Kunstrichtung, das diastolische Intervallgeräusch, bis zum durchgehenden Pfeifen der Asystolie.
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Von und mit Hermann Nitsch findet demnächst statt: "Sinfonie für großes Orchester, Blaskapelle, Chor + Aktion." 1. September 2018 um 18 Uhr im Nitsch Museum in Mistelbach. www.nitschmuseum.at
Wolfgang Koch, Historiker und Schriftsteller, beforscht den phänomenologischen Nitsch-Kosmos seit dem Jahr 1984.