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Der Mann, der niemals starb

Von Wolfgang Ludwig

Reflexionen

Am 10. Jänner 1914 wurden in Salt Lake City bei einem Ladenüberfall zwei Männer erschossen. Für die Straftat büßte ein Unbeteiligter: der Gewerkschafter Joe Hill. |Ein historischer Justizskandal.


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Joe Hill (1879-1915).
© Bettmann/Corbis

In der Nacht des 10. Jänner 1914 kam es in Salt Lake City (Utah) zweimal zu einem Schusswechsel: bei einem wurden der Ladenbesitzer John Morrison und einer seiner Söhne bei einem Überfall trotz Gegenwehr getötet. Dieser Vorfall ist amtlich. Der zweite Vorfall, ein Zwist zwischen zwei schwedischen Einwanderern, trug sich in Murray City, einem Vorort von Salt Lake, ohne Wissen der Polizei zu: Otto Appelquist und Joel Hägglund, der sich Joe Hill nannte, waren wegen einer Frau in Streit geraten. Dabei verletzte Appelquist seinen Widersacher Joe Hill durch einen Lungenschuss. Einige Tage darauf verhaftete die Polizei nach dem Hinweis eines Arztes den verletzten Joe Hill und beschuldigte ihn des Mordes an den Ladenbesitzern Morrison.

Joe Hill beteuerte zwar seine Unschuld und behauptete, die Verletzung stamme von einem anderen Vorfall - eben dem oben erwähnten -, nannte aber keine Namen von Beteiligten oder nähere Umstände. Die Sache sah daher schlecht für ihn aus. Zwar hatte die Anklage auch keine Beweise, aber die Behauptungen eines Staatsanwaltes klangen eben glaubwürdiger als die eines kleinen Wanderarbeiters, der noch dazu als Rädelsführer bei Streiks und als Gewerkschaftsaktivist bei der Obrigkeit einen denkbar schlechten Ruf hatte. Hills Verletzung wurde dem Schusswechsel mit dem Ladenbesitzer zugeschrieben. Die Tatsache, dass ein amtsbekannter Krimineller zur selben Zeit sein Unwesen in Murray City getrieben hatte, wurde nicht weiter verfolgt. Nicht verwunderlich, dass der Prozess mit einem Schuldspruch für Joe Hill endete: Er wurde trotz zahlreicher Proteste wegen zweifachen Mordes zum Tode verurteilt.

Hills Schweigen

Beobachter fragten sich, warum Joe Hill nicht einfach den Namen von Otto Appelquist und der Frau, um die es ging, nannte. Hill wäre entlastet und die mögliche Strafe wegen der Schießerei wohl eine nicht nennenswerte Bagatelle gewesen, in einer Zeit, als es im Mittleren Westen noch oft wegen Nichtigkeiten zu irgendeinem Schusswechsel gekommen war.

Die Gründe, warum Hill geschwiegen hatte und lieber in den Tod gegangen war, kennt man nicht. Es gibt darüber nur Vermutungen. Was man aber heute ziemlich sicher weiß, ist, dass Hill die beiden Morrisons nicht umgebracht hatte, und dass es die Privatfehde wirklich gegeben hat.

Die Frau, um die es damals ging, hieß Hilda Erickson, ebenfalls eine schwedische Einwanderin in Utah. Dort lernte sie die beiden schwedischen Arbeiter kennen, die sich um sie stritten. Als Hilda starb, fand sich in ihrem Nachlass ein nicht abgeschickter Brief aus dem Jahr 1949, in dem sie den Vorfall vom 10. Jänner 1914 beschrieb und bestätigte. Wieder stellt sich die Frage, warum weder sie noch Otto Appelquist sich während des Prozesses zu Wort gemeldet hatten.

Der amerikanische Journalist William M. Adler, der sich mit Joe Hill und vor allem mit den unfassbar oberflächlichen polizeilichen Ermittlungen beschäftigte, vertritt die Meinung, dass Hill in den ersten Tagen seiner Verhaftung einfach davon überzeugt war, dass alles nur ein Irrtum gewesen sein müsse und er ohnehin bald wieder freikäme. Je länger er inhaftiert war, umso mehr solidarisierte sich eine breite Öffentlichkeit - angeheizt von der Gewerkschaftsbewegung IWW ("Industrial Workers of the World") - mit dem Opfer des Justizskandals. Der bisher eher unbedeutende Joe Hill schien das plötzliche Interesse an seiner Person wie an seinen gewerkschaftlichen Ideen und Liedern durchaus zu goutieren, meint Adler. Außerdem musste er sich erstmals in seinem harten Leben nicht um die täglichen Mahlzeiten kümmern. Wenn er im Prozess endlich freigesprochen werden würde, wäre er ein bekannter Mann und hätte die Sache der Arbeiterbewegung noch besser publik machen können. Aber warum nannte er nicht die Namen der Entlastungszeugen? Wollte er mit allen Mitteln die geliebte Hilda Erickson aus der Sache heraushalten und ihren Ruf nicht beschädigen? In seiner Jugend in Schweden hatte er gesehen, wie unverheiratete Frauen, die Männergeschichten hatten, von der Gesellschaft geächtet wurden. Auf diese Fragen gibt Adler auch keine Antwort.

Joel Emanuel Hägglund wurde am 7. Oktober 1879 im schwedischen Gävle, knapp 200 Kilometer nördlich von Stockholm geboren. Seine Familie lebte mit neun Kindern, von denen die meisten sehr jung starben, in bitterster Armut, obwohl der Vater als Schaffner bei einer lokalen Bahnlinie ein regelmäßiges Einkommen hatte. Oft gab es einen ganzen Tag nichts zu essen, im Winter konnte nicht immer geheizt werden. Trotz aller Widerwertigkeiten erkannte die musikalische Mutter das gleiche Talent bei ihrem Sohn und förderte ihn, so gut es eben ging. Das Wohnhaus der Hägglunds in der Gammla Stan (Altstadt) von Gävle ist heute ein Museum.

Eine überstandene Tuberkulose, Chancenlosigkeit und Hunger trieben den dreiundzwanzigjährigen Joel, wie so viele Schweden in jener Zeit, zur Auswanderung. In New York angekommen, amerikanisierte er seinen Namen bald zu Joe Hill, wobei Hill eine Anspielung an die letzte Adresse in Gävle, die auf einen Hügel hinaufführende Bergsgatan, ist. Englisch lernte er in kürzester Zeit.

In Amerika führte Hill ein Leben als Wanderarbeiter, schlief auf Zügen und im Freien, machte praktisch jede Arbeit, auch wenn sie noch so hart und schlecht bezahlt war. Um 1910 schloss er sich der IWW Bewegung an, die sich für eine Verbesserung der katastrophalen Zustände der Arbeiter einsetzte. Er begann Lieder zu schreiben, die sich mit den Arbeitsverhältnissen auseinandersetzten, und erlangte mit den in die Ohren gehenden Melodien und den einfachen, originellen Texten in der Arbeiterschaft eine gewisse Bekanntheit.

Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet nach langjähriger Tätigkeit in Südosteuropa in Wien Deutsch und Geografie und schreibt Kulturreportagen.

In einem seiner populärsten Lieder, "The Preacher and the Slave", parodiert er einen religiösen Song und lässt einen Prediger, der von Hungernden nach etwas Essbarem gefragt wird, sagen: "You will eat, bye and bye, in that glorious land above the sky. Work and pray, live on hay, you’ll get pie in the sky when you die". ("Du wirst demnächst zu essen bekommen in dem glorreichen Land im Himmel. Arbeite und bete, schlafe auf Heu, du bekommst Kuchen im Himmel, wenn du stirbst.").

In dem Song "The Tramp" beschreibt er aus eigener Erfahrung, wie Wanderarbeiter oft von Dorfbewohnern verjagt wurden: "Tramp, tramp, keep on a-tramping, nothing doing here for you; if I catch you ’round again, you will wear the ball and chain; keep on tramping, that’s the best thing you can do." ("Landstreicher, schau, dass du weiterkommst, hier gibt’s nichts für dich zu tun. Wenn ich dich noch mal hier erwische, wirst du Ketten und Eisen tragen. Schau, dass du weiterkommst, das ist das Beste, was du tun kannst.")

Ende 1913 hielt Hill sich als Minenarbeiter in Utah nahe Salt Lake auf. Am späten Abend des 10. Jänner 1914 kam es in Salt Lake City zu dem oben erwähnten Mord an dem Ladenbesitzer John Morrison und dessen Sohn. Ein zweiter Sohn hatte den Überfall im Hinterraum des Geschäftslokals indirekt miterlebt. Und an demselben Abend hatte Hill in einem Vorort von Salt Lake die Auseinandersetzung mit seinem Rivalen. Nach der Schussverletzung suchte Hill noch in der Nacht einen Arzt auf, der ihn Tage später, als der Mordfall Morrison in allen Zeitungen stand, der Polizei meldete.

Mit seinen Liedern und zusammen mit dem IWW, der immer wieder Streiks organisierte, hatte Hill die Sache der Arbeiter ein wenig weitergebracht. Er hatte sich dadurch aber auch mächtige Feinde gemacht, die nun den intensiven Wunsch hegten, Hill aus dem Verkehr zu ziehen. Diese Gelegenheit war jetzt gekommen. Dass ein mehrfach vorbestrafter Verbrecher mit einem Komplizen zum Tatzeitpunkt von Zeugen in der Nähe von Morrisons Laden gesehen wurde und beide noch in der Nacht Salt Lake fluchtartig verlassen hatten, spielte für die polizeilichen Ermittlungen keine Rolle. Joe Hill musste der Täter sein.

Hill wurde beschuldigt, einer der Mörder der Morrisons gewesen zu sein. Eine Tatwaffe oder Beweise konnte die Polizei nie vorlegen, obwohl der Arzt angegeben hatte, Hill wäre angeblich mit einer Waffe zu ihm gekommen. Im Prozess, der zu einer riesigen politischen Sache aufgebauscht wurde, hatte Hill keine Chance. Gegner der Gewerkschaften und einige Unternehmer stellten Behauptungen auf, ließen Beweise unterdrücken, und die Justiz von Utah spielte mit. Hill war anfangs obendrein so naiv zu glauben, er brauche keinen Anwalt.

Hill wurde schließlich zum Tode verurteilt. Richter Morris l. Ritchie fragte ihn, ob er durch Erschießen oder durch Erhängen zu Tode kommen wolle. "Ich bevorzuge Erschießen", antwortete Hill, "ich wurde schon mehrfach erschossen und glaube, ich halte es aus."

Lied als Vermächtnis

Nach vergeblichen Gnadengesuchen und trotz des Einsatzes des schwedischen Königs und des amerikanischen Präsidenten Wilson fand die Hinrichtung am 19. November 1915 statt.

Hill hinterließ zahlreiche im Gefängnis verfasste Lieder und Texte, darunter "My Last Will", in dem es unter anderem heißt: "My will is easy to decide, for there is nothing to divide. My kin don´t need to fuss and moan, moss does not cling to a rolling stone". (Mein letzter Wille ist leicht zu entscheiden, denn da gibt es nichts zu verteilen. Meine Leute brauchen sich nicht aufregen oder trauern, denn Moos bleibt nicht haften an einem rollenden Stein.)

Der englische Schriftsteller und Drehbuchautor Alfred Hayes verfasste 1925 das durch die Vertonung von Earl Robinson und die Interpretation von Joan Baez bekannt gewordene Gedicht "I Dreamed I Saw Joe Hill Last Night", in dem Joe Hill die berühmten Worte spricht: "Takes more than guns to kill a man", says Joe, "I didn’t die" ("Es braucht mehr als Gewehre um einen Menschen zu töten, sagt Joe, ich bin nicht gestorben."

Adler, William M.: The Man Who Never Died. The Life, Times and Legacy of Joe Hill, American Labor Icon. New York, 2011.

Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet nach langjähriger Tätigkeit in Südosteuropa in Wien Deutsch und Geografie und schreibt Kulturreportagen.