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Der Mann, der Sohn, Tochter und Bruder bei der Tragödie von Parndorf verlor

Von Thomas Seifert aus Dohuk

Politik

Vor vier Jahren starben in einem Kühl-Lkw einer Schlepperbande 71 Menschen.


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Dohuk/Wien. Hazim Kali hält sein Smartphone fest umklammert, so als wäre es sein wichtigster Besitz. Auf dem Speicherchip sind die Zeugnisse einer glücklicheren Vergangenheit gespeichert. Bilder von seiner Tochter Elin, seinem Sohn Ali Alend und seinem Bruder Herish. Er wischt auf seinem Handy über die Porträts und Szenen von Familienzusammenkünften, über die Bilder vom Abschied von der Familie an der Grenze zur Türkei. Der Anblick der Bilder schmerzt.

Hazim Kali ist irakischer Jeside. Seine 14jährige Tochter, seine 16jähriger Sohn und seine 22jähriger Bruder sind vor vier Jahren zu Nummern in einem Kriminalfall geworden: "Leiche Nr 45: Kali Elin Hazim, 14, weiblich, Irak. Leiche Nr 55: Ahmed Herish Dino, 22, männlich, Irak. Leiche Nr 65: Kali Ali Alend, 16, männlich, Irak." In den Unterlagen der Ermittler - Aktenzeichen B4/19007/2015 - sind ihre Namen fein säuberlich verzeichnet: Sie waren unter den 71 Opfern, die am 26. August 2015, zusammengepfercht in einem luftdicht verschlossenen Kühl-Lkw auf dem Weg von Ungarn nach Österreich ums Leben gekommen sind.

Die Bilder vom Kühllaster, der in einer Pannenbucht an der A4 in der Nähe von Parndorf abgestellt war, gingen damals um die Welt und haben - genauso wie das Bild der auf einen Strand in der Nähe von Bodrum gespülte Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi ein paar Tage später am 2. September - die europäische Öffentlichkeit aufgerüttelt.

"Ein Lastwagen voller Leichen" titelte die "Presse" damals auf Seite eins, auf der Titelseite der Gratiszeitung "Heute" prangte in dicken Lettern: "50 Tote klagen an!", die "Wiener Zeitung" konstatierte "Das tödliche Ende dieser Flucht schockiert Europa".

Der frühere österreichische EU-Abgeordnete Josef Weidenholzer hat gemeinsam mit dem Wiener Irak-Experten Thomas Schmidinger Hazim Kali immer wieder getroffen, das erste Mal rund ein Jahr nach der Tragödie von Parndorf. Damals zeigte Hazim Kali den Österreichern neben den schönen Erinnerungsbildern auch ein schauriges Foto auf seinem Handy. Nämlich jene grausige Aufnahme aus der Boulevardpresse, die das Leichenknäuel, so wie es die Polizei im Kühl-Lkw nach dem Öffnen der Türen vorgefunden hat, zeigt. Kali vergrößerte bei dem Gespräch damals einen Bildausschnitt und zeigte Weidenholzer und Schmidinger zum Vergleich ein Foto der Hände seiner Tochter: "Das ist sie. Elin. Wenn ich das gewusst hätte...".

Doch die Familie glaubte, es gebe für die jungen Leute gar keine Alternative als die Flucht nach Europa. "Dis IS-Kämpfer waren damals im Jahr 2014 ganz nahe an unserem Dorf - auf der anderen Seite des Flusses, des Tigris. Wir konnten sie hören und sie konnten uns sehen", so Kali. Einer von Kalis Verwandten wurde im damals hart umkämpften Sindschar-Gebirge getötet und als Kalis Frau entführt und erst gegen Bezahlung von Lösegeld wieder freigelassen wurde, fiel die Entscheidung, die Kinder so rasch wie möglich nach Europa in Sicherheit zu bringen. Wir haben unsere Ersparnisse - 8.500 Euro - in die Schlepper investiert. Sie haben versprochen, sie sicher nach Deutschland zu bringen", hat Hazim Kali damals gesagt.

Heute bereut Kali seine Entscheidung zutiefst, hat Schuldgefühle und würde am liebsten das Rad der Zeit zurückdrehen. "Meine Frau trägt nur noch Schwarz, seit sie die Kinder verloren hat. Ihr Herz ist gebrochen", sagte er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" in Dohuk im Nordirak. Seine Mutter sei bald nach der Tragödie gestorben - Hazim Kali vermutet, dass der Schmerz über den Verlust ihres Sohnes und der Enkel sie ins Grab gebracht hat.

Kali erfuhr erst mit 20 Tagen Verspätung von der Tragödie. Denn als der Kontakt zu Sohn und Tochter abgebrochen war, hatte ein Schlepper Hazim Kali zunächst erklärt, er solle sich keine Sorgen machen, die Kinder seien wohl im Gefängnis gelandet und nur deshalb nicht erreichbar. Doch dann kam der Schock. Ein Vater eines Opfers von Parndorf hat ihn angerufen. Was er gesagt hat, hat sich Kali ins Gedächtnis eingebrannt: "Ich habe gehört, Sie hatten auch Kinder in dem Schlepper-Lkw mit den Toten...". Einige Tage danach wurden Leichen der Kinder und des Bruders in den Irak überstellt und dort begraben. Heute hat die Familie wieder eine kleine Tochter, sie trägt den Namen der verstorbenen Schwester Elin. Eines Tages möchte Kali die Orte in Ungarn und Österreich besuchen, wo zwei seiner Kinder ihr Leben lassen mussten. Vielleicht wird ihm das zu einem Jahrestag der Tragödie von Parndorf ermöglicht, so die Hoffnung des von Hazim Kali.

Der Fall ist abgeschlossen

Für die Gerichte ist der Fall längst abgeschlossen. Der Prozess, der am 21. Juni 2017 am Gericht im südungarischen Kecskemet begonnen hatte, endete am 20. Juni 2019 mit dem Berufungsverfahren im südungarischen Szeged. Angeklagt waren insgesamt 14 Personen, davon zwei Afghanen, elf Bulgaren und ein bulgarisch-libanesischer Staatsbürger.

Drei der vier Angeklagten erhielten lebenslange Haftstrafen ohne die Chance einer vorzeitigen Entlassung. Einer der Angeklagten hatte mit den Behörden kooperiert - er soll nach 30 Jahren Haft die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung erhalten. Richter Erik Mezölaki begründete sein Urteil damit, dass sich die Hauptangeklagten darüber im Klaren gewesen seien, dass die Menschen im hermetisch abgeschlossenen Kühl-Lkw ersticken könnten. Ebenso sei ihnen bewusst gewesen, dass der Laderaum von innen nicht zu öffnen war und so haben sie den Tod der Flüchtlinge in Kauf genommen. Die übrigen zehn Angeklagten in dem Schlepper-Prozess wurden zu Strafen zwischen vier und acht Jahren verurteilt. Zwei Angeklagte sind immer noch flüchtig - sie wurden in Abwesenheit zu jeweils acht Jahren Haft verurteilt.

Die Behörden konnten den Schleppern insgesamt 31 Schleuse-Fahrten nachweisen, insgesamt sind den Behörden 34 Schleusungen der Bande bekannt, die Schlepper mussten an den rund 1200 Menschen, die sie geschleust haben, wohl hunderttausende Euro verdient haben. Selbst am Tag nach der Todesfahrt von Parndorf sind die Schlepper ungerührt ihren Geschäften nachgegangen und haben erneut 67 Flüchtlinge in einen Lastwagen gepfercht. Diese Gruppe hat die Fahrt nach Österreich nur deshalb überlebt, weil sie ein Loch in die Wand treten konnten.

Rekonstruktion der Todesfahrt

Der Fall wurde von den Ermittlungsbehörden und den Medien (darunter vor allem von der "Süddeutsche Zeitung und vom "Spiegel") eingehend rekonstruiert: Die Todesfahrt beginnt am frühen Morgen des 26. August 2015 gegen 4:50 Uhr in einem Waldstück nahe Morahalom an der ungarischen-serbischen Grenze, rund 20 Kilometer westlich von Szeged.

Dort halten sich die Geflüchteten versteckt. Ein Kühllaster, der früher zum Fuhrpark des slowakischen Geflügelproduzenten Hyza gehörte und den die Schlepper nur ein paar Tage davor um knapp 20.000 Euro im Autohof Dejavu Crystal bei Lajosmizse (unweit von Kecskemet, wo ihnen später der Prozess gemacht werden wird) gekauft haben, fährt heran und wartet bei laufendem Motor. 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder - das jüngste ist 10 Monate alt - werden in den 14,26 Quadratmeter großen Laderaum des Kühllasters verfrachtet. Syrer, Iraker, Iraner und Afghanen. Jedem bleibt nicht viel mehr als die Fläche einer Zeitungsdoppelseite. Die mit Gummidichtungen versehenen Türen schließen luftdicht, es gibt keine Fenster, die Tür lässt sich nur von außen öffnen. Am Steuer des weißen Volvo-Kühllasters sitzt der Bulgare Ivaylo S.. Nachdem er die menschliche Fracht aufgenommen hat, nimmt er eine Route vorbei an Budapest weiter in nordwestlicher Richtung.

Dabei fährt immer eines der Begleitfahrzeuge der Schlepper in einigem Abstand vor dem Lastwagen her, um nach Polizeikontrollen Ausschau zu halten. Vorneweg fahren der BMW und der Mercedes, dann der Kühllaster, dahinter der Audi. Die Landsmänner von Ivaylo S., Todorov B., 39, und Metodi G., 30, sowie Samsoor L., der Afghane, sitzen in den Begleitfahrzeugen.

In den Ermittlungsakten der burgenländischen Polizei wird später zu lesen sein: "Zwecks Durchführung der Fahrt wurde der bulgarische Staatsbürger S. Ivaylo als Lenker des Lkw Kühltransporters weiß, Type FL6L, mit ung. Zollkennzeichen, Z-12198/15 mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen Entgelt, engagiert."

In der Anklageschrift der ungarischen Staatsanwaltschaft wird sich später auch der Mitschnitt einer Telefonüberwachung der ungarischen Polizeieinheit NNI (Nemzeti Nyomozó Iroda, die Nationalpolizei, die bei schweren Verbrechen ermittelt) finden, die im Juni 2017 von den deutschen Sendern NDR, WDR und der "Süddeutschen Zeitung" - kurz vor dem Beginn des Prozesses gegen die Schlepperbande in Kecskemet - veröffentlicht wird. Die Behörden hatten die Schlepper offenbar schon längere Zeit im Visier.

Die Mitschnitte sind Dokumente des Grauens, die offenbaren, dass die Geflüchteten im Kühl-Lkw für die Schlepper nichts weiter als Schmuggelgut sind. Schon nach 35 Minuten ist auf dem Abhörmitschnitt zu hören, wie sich drei der Schlepper darüber unterhalten, dass die Flüchtlinge im Kühl-Lkw laut klopfen. Zu diesem Zeitpunkt müssen die ersten Menschen im Laderaum schon in Todesangst gewesen sein. Kurz nach sechs Uhr, etwa 70 Minuten nach der Abfahrt unterhalten die Schlepper sich darüber, dass die Flüchtlinge immer lauter, immer panischer gegen die Wand des Frachtraums klopfen.

Die österreichischen Gerichtsmediziner gehen davon aus, dass der Tod bei den meisten Menschen im Kühl-Lkw zwischen 04:45 Uhr und 06:50 Uhr eingetreten ist, also in Ungarn auf der Strecke M5 Domaszek Kilometer 164,7 und M5 Ocsa Kilometer 29,3. Um 6:10 Uhr geht ein Anruf an den Afghanen Samsoor L.. Fahrer Ivajlo S. sagt: "Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien." Beim Erreichen der Grenze ist es dann still, alle Passagiere sind längst tot. Der Volvo-Transporter überquert die Grenze um 9.16 Uhr. Um 9.40 Uhr bleibt Todorov B. mit seinem Audi in einer Pannenbucht stehen, A4 Fahrtrichtung Wien, Kilometer 41,38 bei Parndorf. Kurz darauf hält dort auch Ivajlo S. seinen Transporter. "Mit hoher Wahrscheinlichkeit", so steht es in den Akten, steigt er nun in den schwarzen Audi von Vencislav T. Die beiden fahren weiter Richtung Wien. Den Laster lassen sie dort stehen.

25 Stunden später, am 27. August um 10.50 Uhr steigt der Verkehrspolizist Gruppeninspektor Harald Seitz aus seinem VW-Passat Streifenwagen, um den Kühl-Lkw, der in der Pannenbucht Straßenkilometer 41,38 auf der A4-Ostautobahn abgestellt ist, zu überprüfen.

Er sieht, wie an der Ladetür dunkelrote Flüssigkeit auf den Asphalt tropft. Er nimmt Verwesungsgeruch wahr, sieht das Hühnerlogo auf dem Laster und denkt zuerst an verdorbene Fracht. Er öffnet die Tür, er sieht reglose Körper am Boden liegen, der Verwesungsgeruch raubt ihm die Sinne. Da ist nichts mehr zu machen, das ist ihm rasch klar. Er schickt eine Kurznachricht an seine Dienststelle: "Lkw mit circa 20 Toten auf A4 Parndorf aufgefunden." Die Sicherheitsbehörden arbeiten nun schnell: Noch am selben Tag werden die Hauptverdächtigen in Ungarn geschnappt.

Weil die Opfer noch auf ungarischem Boden starben, wird den Schleppern in Ungarn der Prozess gemacht werden. Hazim Kali, dessen Sohn, Tochter und Bruder in diesem Kühl-Lkw gestorben ist, will noch wissen, ob in Österreich etwas darüber bekannt ist, ob die Opfer furchtbar leiden mussten. Er erfährt, dass die Forensiker keine Spuren auf körperliche Qualen vor dem Tod gefunden haben, dass die Gerichtsmediziner davon ausgehen, dass die meisten einfach wegen des Sauerstoffmangels das Bewusstsein verloren haben. Die Forensiker gehen aber von Panik und Todesangst aus, denn schließlich müssen die Passagiere mitbekommen haben, wie einer nach dem anderen zusammensackt. Kali nickt nur, sagt nichts und hält sein Smartphone fest umklammert, als wäre dieses Telefon mit den Bildern am Speicher-Chip das Letzte, was ihm in seinem Leben noch geblieben ist.