Die Gene sind nicht der Weisheit letzter Schluss.
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Karma is a bitch - formulieren wir es ganz lapidar. Ja, freilich, ein Miststück kann das Schicksal schon sein, wenn man bedenkt, wie schnell uns Erkrankungen, Todesfälle oder Trennungen aus der Bahn werfen können. So manch Ereignis entzieht uns regelrecht den Boden unter den Füßen. Es gibt kein Entrinnen. Doch sind wir dem Schicksal auf jede erdenkliche Art und Weise ausgeliefert oder können wir das Los des Lebens gar selbst beeinflussen? "Willst du mit den Kinderhänden/in des Schicksals Speichen greifen?/Seines Donnerwagens Lauf/hält kein menschlich Wesen auf", hat es Franz Grillparzer formuliert. Doch hatte er damit recht? Alles Kismet, wie es nicht nur die Muslime zu sagen pflegen? Oder: Alea iacta est? "Der Würfel ist geworfen", ein Ausdruck, der Julius Caesar zugeschrieben wird und nicht weniger deutlich die Machtlosigkeit des Menschen aufzeigen soll. Punkt. Aus. Schluss.
These auf den Kopf gestellt
"Es gibt Dinge, die können wir formen, die entwickeln sich, und sie lassen sich begleiten. Wir können sie im Voraus in die richtige Spur bringen, sie lenken und auf ein gutes Fundament stellen", stellt der Wiener Mediziner und Theologe Johannes Huber die festgefahrene These nun so richtig auf den Kopf. In seiner im Verlag edition a neu erschienenen, kosmopolitischen Abhandlung "Die Anatomie des Schicksals. Was uns lenkt" blickt er nach "Es existiert", "Der holistische Mensch" und "Woher wir kommen. Wohin wir gehen" abermals weit über den Tellerrand hinaus und wagt sich in neue Gefilde. Wer denkt, in den vorherigen drei Publikationen schon alles erfahren zu haben, der irrt gewaltig. "Der Mensch kann das Schicksal aus eigenem Willen und Antrieb bis zu einem gewissen Grad verändern. Der Mensch wird von der Puppe zum Puppenspieler", so die weiterführende These.
Um Schicksalsschläge abzufedern und aus ihnen wieder Normalität zu machen, hat schon allein die Medizin in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Beitrag geleistet. Man denke an Antibiotika, Impfungen und andere medizinische Maßnahmen. Doch sowohl das Ablaufdatum des Menschen als auch der Zeitpunkt des Auftretens schwerer Erkrankungen wird zumeist den Genen zugeschrieben. Punkt. Aus. Schluss.
Folgen der gedanklichen Gier
Die evolutionäre Entwicklungsbiologie, auch Evo-Devo (evolutionary developmental biology) genannt, zeige allerdings auf, dass die Umwelt mehr Einfluss auf die Entwicklung von Lebewesen als das Erbgut selbst hat. "Unsere Umwelt bestimmt stärker über unser Leben als unsere Gene", schreibt Huber. Deutlich zeigt diesen Einfluss etwa eine aktuelle Studie. Der Klimawandel schädigt schon jetzt die Gesundheit, insbesondere die von Kindern, lautet die Quintessenz von Experten aus 35 Institutionen, darunter die WHO und etliche Universitäten, im Fachblatt "The Lancet". Ihr Körper und ihr Immunsystem entwickeln sich noch und Schäden in der Kindheit könnten bleiben. Genannt werden Unterernährung durch Ernteausfälle und Krankheiten durch veränderte Viren und Bakterienstämme.
"Was die Moderne nicht in den Griff bekommt, sind die sich anbahnenden Schicksalsschläge, die von der Umwelt ausgehen", erklärt der Autor weiter. Dabei fasst er allerdings nicht nur Einflüsse wie klimatische und damit einhergehende Veränderungen ins Auge, sondern auch soziale Gegebenheiten sowie die Veränderung von Zeit und Werten.
Einerseits sei es die gedankliche Gier, "die die Welt schicksalhaft in den Abgrund stürzt, autofrei und klassenlos wird da nichts ändern. Wir müssen die Gedanken ändern, um aus dieser Falle zu entkommen, den Sozialstaat auf ein neues Fundament stellen", fordert Huber. "Sonst bringt uns unsere Versicherung vor schweren Schicksalsschlägen ebensolche." Und auch das nächste Zeitalter werde wieder andere Schicksale formen. Es richte sich auf eine neue planetarische Ordnung aus.
Epigenetik und microRNA
Gehe es nach derzeitigen Betrachtungsweisen, so soll die Klassifizierung Mann und Frau in einer neuen bizarren Weltordnung nicht mehr gelten. Hochgepriesen werde der globale Uniformismus. Es komme zur Angleichung der Geschlechter, zur Veränderung von Reproduktion und Fortpflanzung, zur Einebnung von Ethnien und Hierarchien. Zudem bringe die Veränderung der Werte eine neue Spiritualität und ebne den Weg hin "zu einem elektronischen Exhibitionismus, zu einem überbordenden Narzissmus, einer Folge der frühkindlichen Anbetung und falsch verstandener Kindesliebe", warnt Huber. Punkt. Aus. Schluss.
Nun kommt aber, wie auch in den letzten Publikationen, wieder die Epigenetik und - eben neu - Evo-Devo ins Spiel. Sie entdeckte nicht nur die "stille, schicksalhafte Macht der dunklen DNA", sondern auch jene der sogenannten microRNA. "In der DNA besteht die dunkle Materie aus langen Sequenzen, von denen lange niemand wusste, wieso sie eigentlich da sind." Sie bilden immerhin 90 Prozent des Erbguts. Nur ein kleiner Teil wird abgelesen, der große Teil schien Junk-DNA zu sein. Doch das Gegenteil sei der Fall. Die microRNA wiederum - "das sind die kleinen Männchen, die die Evolution steuern". Sie regelt die Aktivität einer Vielzahl von Genen gleichzeitig. Beim Menschen scheinen mehr als 60 Prozent der Gene durch microRNAs beeinflusst zu werden. Rund 70 Prozent befinden sich im Gehirn. "Sie haben enorme Auswirkungen auf das Verhalten, die Intelligenz und das Bewusstsein."
Erkennen ermöglicht Wandel
Die microRNA ist an der sogenannten Genexpression beteiligt und kann damit gewisse Eigenschaften der Gene ein- oder ausschalten. Sie ist für Einflüsse aller Art empfänglich und wird auch über Generationen hinweg weitergegeben.
Genau darin besteht der besondere Clou der Sache - in der Weitergabe an die Nachkommen. Eigenarten, Unarten und auch Krankheiten werden übertragen, weitergegeben von einer Generation auf die nächste, ohne dass der Mensch auch nur eine Ahnung davon hatte. Der entsprechende Austausch dafür findet in den Keimzellen und der Gebärmutter statt. Gut eingefädelt, könnte dieser Prozess mit einem veränderten Verhalten positiv gesteuert werden, betont Huber. Der Mensch habe es ihm zufolge selbst in der Hand, wie das Arrival seiner Kinder aussieht. Dabei gelte es auch, neue Entwicklungen zu erfassen und dementsprechend zu handeln. "Es macht etwas mit den Embryos und mit den Kindern, die jetzt entstehen, dass ihre Mütter in einer elektronischen und schnellen Welt leben, dass ihre Nahrungsmittel mit Konservierungsstoffen, Emulgatoren und großen Mengen an Zucker und Salz versetzt sind", so der Mediziner. Hier seien Taten gefragt.
Mit dem neuen Wissen könnten wir Phänomene besser verstehen, die wir alle in unseren Leben früher oder später beobachten - und besser handeln. "Der Weg des Verstehens ist auch der Weg der Wandlung." Das scheint schon der römische Philosoph Lucius Amaeus Seneca, ohne die Hintergründe zu wissen, erkannt zu haben: "Selten tritt dem Weisen das Schicksal in den Weg." Also: Von der Puppe zum Puppenspieler. Punkt. Aus. Schluss.
Sachbuch
Die Anatomie des Schicksals
Johannes Huber
Verlag edition a
240 Seiten