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Der Moralphilosoph und die Ökonomie

Von Thomas Seifert

Wirtschaft
Julian Nida-Rümelin beim Europäischen Forum Alpbach.
© Luiza Puiu

Die Finanzwirtschaft ist von einem Werkzeug in der Ökonomie zum Treiber der Volkswirtschaft geworden, klagt Julian Nida-Rümelin.


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"Wiener Zeitung": Die Anreizsysteme in Banken - Stichwort Bankerboni - belohnen nicht gerade nachhaltiges Verhalten.Julian Nida-Rümelin: Das ist nur ein Teil des Problems. Das Problem beginnt damit, dass eine Vielzahl von Volkswirtschaften einen übermäßig aufgeblähten Finanzsektor haben, etwa Großbritannien, Luxemburg oder die Schweiz. Dazu kommt, dass sich die ursprüngliche Funktion der Finanzwirtschaft gewandelt hat. Sie ist von jener Säule der Wirtschaft, die Anlagen und bestimmte Kredite ermöglicht, zu einem Treiber der gesamten Ökonomie geworden.

Und es ist machen Ländern nicht gut bekommen, zu stark auf den Finanzdienstleistungssektor zu setzen.

Island ist ein Beispiel, das man nennen könnte, Irland ebenso. Ich vermute, dass wir eine lange Phase der Redimensionierung des Finanzsektors vor uns haben. Die Überblähung dieses Teils der Wirtschaft war schlicht keine gesunde Entwicklung. In keinem anderen Bereich hatte man Fehlentwicklungen in ähnlichem Ausmaß. Ich will es einmal so formulieren: Das Gros der wirtschaftlichen Praxis, des Alltags, wie zum Bäcker Brot kaufen gehen, oder beim Autohändler ein Auto bestellen, oder zur örtlichen Sparkasse gehen, um sich zu erkundigen, wie man zumindest ein klein wenig Rendite für sein Erspartes bekommen kann, läuft meist zur Zufriedenheit aller ab. Das heißt, Ihre Ansprechpartner geben Ihnen Auskünfte, von denen sie selber überzeugt sind. Die ökonomische Praxis des Alltags ist also überwiegend von einer Vertrauenskultur geprägt. Auf den Finanzmärkten gibt es aber diese Kultur vielfach nicht, dort löst sich die ökonomische Optimierung aus den Strukturen der Vertrauenskultur, der Moral, auch des Rechts.

Die Politik hätte regulierend eingreifen müssen?

In der Tat: Die Politik hat aber dem Drängen der Finanzwirtschaft nachgegeben. Auch in Deutschland und auch die Regierung, der ich angehört habe (Nida Rümelin war Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder, Anm.). Die Folgen waren mitunter ziemlich verheerend. Ich warne aber auch davor, dass man nun glaubt, man könne all das wieder über staatliche Strukturen in den Griff kriegen. Und auch der Basel-Prozess, der gewisse hochriskante Finanzpraktiken unterbinden will, hat den unerwünschten Effekt einer immer restriktiveren Kreditvergabe, davon profitieren die Staatsschuldner und darunter leidet die Realwirtschaft. Also Vorsicht: Der Staat allein kann das nicht richten!

Aber was kann man sonst noch tun?

Die gesamte Wirtschaft sollte ein hohes Eigeninteresse daran haben, dass grundlegende Ethos-Normen wieder selbstverständlicher Bestandteil des Berufsbildes werden sollen. Ein Arzt stellt ja auch keine Diagnose, die seiner Praxis das höchste Einkommen verspricht, sondern jene, die er für seinen Patienten für richtig hält. Genauso muss das auch in der Finanzwirtschaft sein. Wenn ich eine Empfehlung gebe, dann bin ich davon überzeugt, dass sie im Interesse des Kunden ist. Ich meine sogar, dass die Situation günstig ist. Es wächst eine Generation heran, die nicht mehr nur getrieben ist von möglichst hohen, möglichst schnellen Gewinnen oder Einkommen, sondern die auch noch andere Interessen hat. Der zweite Punkt: Ein Unternehmen, das sich anständig verhält, dem Nachhaltigkeit, Fairness und Vertrauen wichtig sind, achtet auch darauf, dass die eigenen Mitarbeiter nicht nach zwei Jahren ein Burn-out erleiden. Die jüngere Generation legt zunehmend Wert auf eine gute Balance zwischen Beruf und Familie, zwischen Arbeit und außerberuflichem Engagement.

Der frühere Vorsitzende der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, eine Ikone der Neoliberalen, hat nach dem Beinahe-Kollaps der Weltwirtschaft zugegeben, dass er Fehler in seiner Ideologie gefunden hat.

Der ideale Markt basiert auf einer letztlich anarchistischen Ideologie, nämlich dass die beste aller Welten jene wäre, in der alle Individuen rational optimierten. Dann würde ein idealer Markt entstehen und es gäbe nur mehr Pareto-effiziente Verteilungen. Das bedeutet, man kann keinen Einzelnen mehr besserstellen, ohne einen anderen schlechterzustellen. Dabei zeigt schon die Spieltheorie, dass mehrere jeweils individuell optimierende Mitspieler schlechter abschneiden, als wenn sie kooperieren. Wenn zum Beispiel im Gefangenendilemma die "Gefangenen" zusammenarbeiten, haben sie die Chance auf einen höheren Gewinn, wenn sie einander "verraten", ist die Auszahlung für jeden geringer. Wenn Sie glauben, der andere verrät sie, kassieren lieber Sie selbst. Wenn nicht, können beide den Gewinn lukrieren. Auffällig ist in jedem Fall, dass in der alten Auseinandersetzung zwischen den Anhängern von Friedrich August von Hayek, dem Säulenheiligen der Marktfundamentalisten, und John Maynard Keynes, der Ikone der Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft, die Debatte heute wieder von den Keynesianern dominiert wird. Ich bin übrigens nicht glücklich darüber, dass es nur um diese Alternative zu gehen scheint: Beide Paradigmen der Ökonomie haben gravierende Defekte!

Liberale Ökonomen reden zwar gerne über Geld, sehr ungern über Macht. In den USA hat es den Anschein, als würde sich eine Plutokratie jene Regeln von der Politik kaufen, die sie gerne hätte, und das dann Lobbying nennen.

Der Kern der neoklassischen Theorie besteht darin, dass der freie, staatlich nicht oder nur minimal kontrollierte Markt die beste aller Möglichkeiten ist. Das setzt aber voraus, dass es keine Machtballungen gibt, dass das Spiel grundsätzlich offen ist. Was aber de facto passiert, ist - vor allem in den USA, aber auch in China und in Brasilien -, dass das Gros des Wirtschaftswachstums einem immer kleineren Teil der Bevölkerung zugute kommt. Das führt zu Vermögensanballungen, die eine Art Refeudalisierung der Gesellschaft mit sich bringen.

Man sieht auch die Herausbildung von Quasi-Monopolen, vor allem im Software-Bereich.

Google und Microsoft haben tatsächlich eine Dimension erreicht, in der die normalen Marktkräfte außer Kraft gesetzt sind. Das ist ein ernstes Problem und auch eine paradoxe Entwicklung, denn nun sind genau jene hilflos, die zuvor für eine geradezu anarchische Freiheit des Marktes plädiert haben. Die müssen nun zusehen, wie sich Oligopole oder gar Monopole entwickeln, die dann den freien Markt ad absurdum führen.

Wir leben in einer Zeit eines enormem Pessimismus in Europa. Haben wir nicht auch ein Stimmungs-Problem auf unserem Kontinent?

Europa hätte in meinen Augen grundsätzlich günstige Bedingungen, um in Zukunft zu bestehen. Als einzige große Region auf der Welt hat sich hier ein Kompromiss zwischen staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen entwickelt. Wir haben wenig schreiende Armut, das kann man von den USA nicht behaupten. Und es gibt auch nicht diese extremen Ungerechtigkeiten wie in China, Brasilien, Afrika oder Indien. Europa ist ein mächtiger Wirtschaftsblock: Die EU hat die größte Wirtschaftskraft weltweit. Aber: Europa fesselt sich gegenwärtig selbst durch eine institutionelle Krise, die Eurozone hat darüber hinaus keine normal funktionierende Zentralbank wie Japan, Großbritannien oder die USA. Ich bin der Letzte, der hier den Euroskeptiker geben will, aber letztlich haben wir ein System von Fremdwährungen, weil die EZB-Währungspolitik für Länder mit unterschiedlicher Wirtschaftspolitik machen muss. Letztlich hat aber die EZB das Schlimmste verhindert. Auch wenn eine Garantie der EZB, notfalls schlecht besicherte Kredite als Besicherung zu übernehmen, höchst problematisch ist. Das Einschwören auf Haushaltsdisziplin hat zudem eine dynamische Wirtschaftsentwicklung in Europa abgewürgt. Denn die Entwicklung in Spanien oder Italien kann auf Dauer so nicht weitergehen. Die Lösung ist aber nicht die Rückkehr zu eigenen Währungen, die Lösung ist eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion.

Die Rolle Deutschlands hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt, der deutsche Intellektuelle Ulrich Beck warnte gar vor einem "deutschen Europa".

Das ist nicht ganz fair, denn die meisten deutschen Staatsbürger haben null Interesse, dass Deutschland eine dominante Rolle in Europa spielt. Die Deutschen wollen ihr Geld zusammenhalten, sie wollen nicht in die Krise hineingezogen werden und wollen wohl auch nicht für die Verfehlungen der Regierungen anderer Staaten den Kopf hinhalten. Die Bereitschaft ist ja tatsächlich in Deutschland nicht sehr ausgeprägt, sich auszumalen, dass man am Ende für die Schulden Frankreichs oder Italiens geradestehen muss. Ich glaube sowohl in Deutschland als auch in Italien hätten wir eine völlig neue Situation, wenn man im Euroraum gemeinsam politisch entscheiden könnte, bestimmte Mittel bereitzustellen, um Krisen zu verhindern. Das wäre eine andere Situation, als wir sie gegenwärtig haben. Wir sind noch ganz dem Muster intergovernementaler Politik verhaftet, anstatt dass eine selbstbewusste europäische Bürgerschaft durch die Wahl einer europäischen Parlaments- und zugleich Regierungsmehrheit über die weitere Entwicklung der europäischen Integration entscheiden könnte.

Zur Person

Julian Nida-Rümelin

geboren 1954 in München ist Philosoph und Professor an der Universität München. Nida-Rümelin war von 1998 bis 2001 Kulturreferent der Stadt München und wurde danach vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Staatsminister für Kultur und Medien in die rot-grüne Koalition berufen. Sein Buch "Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie" löste Diskussionen in Unternehmen über die Rolle der Ethik in der ökonomischen Praxis aus. Zuletzt erschien bei edition Körber-Stiftung der Essay "Der Akademisierungswahn - Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung".

Zuletzt referierte er bei einer Bildungstagung des Europäischen Forum Alpbach in Innsbruck.