Zum Hauptinhalt springen

Der Multiplen Sklerose auf der Spur

Von Michael Simm

Wissen

Ein ganzes Bündel von wissenschaftlichen Entdeckungen nährt die Hoffnung auf neue Medikamente gegen die Multiple Sklerose (MS). Seite an Seite berichten deutsche, englische und amerikanische Forscher in der Fachzeitschrift "Nature Medicine" (Band 6, Nummer I, Seiten 56-61, 62-66 und 67-70 vom Jänner 2000) über Experimente mit Labormäusen, die ein neues Licht auf Entstehung und Verlauf des Leidens werfen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Dabei gelang es auch, den Verlust an Nervenzellen zu halbieren, der bei einem Tiermodell der Multiplen Sklerose innerhalb von 14 Tagen zu schweren Lähmungen führt. Die Versuche könnten langfristig dazu beitragen, die Krankheit schon in einem sehr frühen Stadium zu erkennen und das Nervensystem besser zu schützen, kommentierte Lawrence Steinman von der kalifornischen Stanford-Universität, einer der bekanntesten MS-Forscher.

Zwar sind sich die meisten Fachleute darin einig, dass eine Entgleisung" des körpereigenen Abwehrsystems der Multiplen Sklerose den Weg bahnt und zur Zerstörung von Nervenhüllen führt. Wie bei schlecht isolierten Stromkabeln ist dann die Signalleitung gestört. Die Muskeln gehorchen den Befehlen des Gehirns nicht mehr zuverlässig, was sich unter anderem durch schubförmig auftretende Seh- und Sprachstörungen sowie Lähmungen bemerkbar macht. Bisher kennt man aber weder die Auslöser für das Leiden, noch versteht man im Detail die komplizierten Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Abwehrzellen.

Bruno Kyewski vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg und seine Kollegen haben dem Puzzle nun einige weitere Teile hinzugefügt. Der Arbeitsgruppenleiter an der Abteilung Zelluläre Immunologie untersuchte eines der wichtigsten Ziele der selbstzerstörerischen Immunattacken, das Eiweiß PLP in der Isolierschicht der Nervenzellen. Im "Trainingscamp der Abwehrzellen", der Thymusdrüse hinter dem Brustbein, sollten die Zellen der Immunabwehr eigentlich lernen, PLP ebenso wie andere körpereigene Substanzen in Ruhe zu lassen.

Kyewski fand nun heraus, dass im Thymus nur eine verkürzte Form von PLP zur Schau gestellt wird. Das fehlende PLP-Bruchstück spielt womöglich eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der MS. Bei Mäusen, die besonders anfällig sind für eine MS-ähnliche Krankheit, kursieren nämlich im Blut besonders viele Abwehrzellen, die das PLP-Fragment angreifen. Resistente Artgenossen bilden diese Abwehrzellen dagegen nicht.

Beim Menschen scheinen Abwehrzellen gegen das PLP-Bruchstück ebenfalls auf eine erhöhte MS-Gefahr hinzudeuten, wie Kyewskis Kollege Vincent K. Tuohy vom Lerner Research Institute im amerikanischen Cleveland heraus gefunden hat. Tuohy untersuchte bislang zehn Patienten mit einem isolierten monosymptomatischen Demyelinierungssyndrom, ein Krankheitsbild, welches häufig in eine Multiple Sklerose übergeht.

Alle fünf Patienten, die später tatsächlich an MS erkrankten, hatten zu Beginn des dreijährigen Beobachtungszeitraums Abwehrzellen gegen das mysteriöse PLP-Fragment besessen. An einer größeren Zahl von Patienten will Tuohy nun überprüfen, ob sich diese Erkenntnis nutzen lässt, um eine Art "Frühwarnsystem" für die Multiple Sklerose zu entwickeln.

"Wahrscheinlich steht am Anfang der Krankheit eine immunologische Fehlfunktion, die sich dann verselbständigt", sagt Kyewski. Je früher man das nahende Unheil erkennt, um so größer wären deshalb die Chancen, das Immunsystem wieder auf den rechten Kurs zu leiten. Theoretisch denkbar wäre beispielsweise eine Impfung, die zur Vernichtung der Amok laufenden Abwehrzellen führt.

"Allerdings", gibt Kyewski zu bedenken, "existiert bisher kein Verfahren, mit dem man gezielt die schwarzen Schafe unter den unzähligen lebenswichtigen Abwehrzellen beseitigen könnte. Wenn man das nicht perfekt im Griff hat, könnte man die Krankheit noch weiter verschlimmern", warnt der Immunologe. Realistischer erscheint daher die Entwicklung neuer Medikamente gegen die Multiple Sklerose. Mit den bislang verfügbaren Substanzen Interferon-Beta und Glatiramer-Acetat (COP-1) kann das Fortschreiten der MS zwar gebremst, nicht aber gestoppt werden.

Die Versuche zweier Schweizer Forscher dürften in diesem Zusammenhang für Krankenkassen und Pharmaindustrie gleichermaßen interessant sein, denn sie eröffnen die Aussicht auf vergleichsweise billige Arzneien mit einem neuen Wirkmechanismus. Der Neurologe David Leppert vom Kantonsspital Basel und der Infektiologe Stephan Leib von der Universität Bern wollen jene Eiweiße (Matrix-Metalloproteinasen, MMPs) kontrollieren, die als Pförtner an der sogenannten Blut-Hirn Schranke sitzen. Diese besteht aus den dicht gepackten Zellen der Blutgefäß-Wände und sorgt normalerweise dafür, dass nur wenige Nähr- und Botenstoffe ins Nervengewebe gelangen. Bei vielen Krankheiten lockern die Pförtnereiweiße jedoch ihre Kontrollen und erlauben so den verhältnismäßig großen Abwehrzellen Eintritt ins Gehirn.

Was als ordentliche "Polizeiaktion" gegen mutmaßliche Eindringlinge beginnt, endet bei der Multiplen Sklerose im Chaos: Blindwütig attackieren die Abwehrzellen eigenes Gewebe. Sie zerstören die Nervenhüllen und verspritzen soviel Signal- und Reizstoffe, dass es zu einer dauerhaften Entzündungsreaktion kommt. Den Schweizern ist es nun gelungen, solch einer überschiessenden Entzündungsreaktion zumindest im Tierversuch einen Riegel vorzuschieben.

"Bei Ratten mit einer, durch Bakterien ausgelösten Hirnhautinfektion gelang es, bestimmte MMPs mit der synthetisch hergestellten und vergleichsweise billigen Substanz GM6001 zu hemmen und die randalierenden Abwehrzellen auszusperren. Ohne GM6001 kommt es zu einer Entzündung, die ein Fünftel des Gehirns zerstört und für die meisten Tiere tödlich endet", erklärte Leppert. Mit dem MMP-Hemmer reduzierte sich der Schaden dagegen auf wenige Prozent der Hirnmasse. Über 90 Prozent der Tiere überlebten dank GM6001 die Infektion; Folgeschäden wie Krämpfe oder Lähmungen traten sehr viel seltener auf.

Mikrobiologe Leib hofft nun auf Partner in der Industrie, die bereit sind, aus GM6001 ein Medikament zur Behandlung von Hirnhautentzündungen beim Menschen zu entwickeln. Zwar ist die Krankheit mit jährlich etwa 8.000 Fällen in Deutschland relativ selten, doch bleiben bei einem Drittel der Betroffenen dauerhafte Nervenschäden zurück, die von kleineren Lähmungen bis zu epileptischen Anfällen und geistiger Behinderung reichen.

Auch bei der Multiplen Sklerose könnten MMP-Hemmer fehlgeleitete Abwehrzellen daran hindern, ins Gehirn vorzudringen, hoffen Leib und Leppert. Zuvor wollen die Forschungspartner aber klären, welche der knapp 20 bekannten MMPs bei der MS eine wichtige Rolle spielen. Die Antwort auf diese Frage suchen die Wissenschafter im Hirngewebe verstorbener MS-Patienten. Dort sollten jene MMPs vermehrt zu finden sein, die als Türöffner für die randalierenden Abwehrzellen fungieren.

Im zweiten Schritt könnte man dann prüfen, ob GM6001 hier ebenfalls wirkt, oder ob andere MMP-Hemmer besser geeignet, die derzeit schon in klinischen Studien gegen chronische Arthritis (Rheuma) und Krebs getestet werden. In den Londoner Labors der Pharmafirma Eisai und am New Yorker Albert Einstein College of Medicine verfolgen zwei Forschergruppen eine andere heiße Spur: Sie fanden heraus, dass Substanzen, die ursprünglich zu Linderung der Folgen eines Schlaganfalls entwickelt wurden, womöglich den Nerventod im Spätstadium der MS verringern können. Zwar mussten auch die Anglo-Amerikaner ihre Schlüsse aus Maus- und Rattenexperimenten herleiten, bei diesen Modellorganismen aber erzielten sie mit sogenannten AMPA-Antagonisten beeindruckende Resultate: Zellverluste im Rückenmark wurden um 50 bis 90 Prozent verringert; Lähmungen, Krämpfe und andere Bewegungsstörungen im Vergleich zu unbehandelten Tieren annähernd halbiert.

Trotz dieser eindrucksvollen Zahlen halten sich die Wissenschafter angesichts von weltweit etwa 2,5 Millionen, teils schwerkranken, MS-Patienten mit großen Versprechungen zurück. Trocken, aber realistisch klingt die Analyse des US-Forschers Steinman: "Gelänge es, die neuen Konzepte vom Labor in die Klinik zu bringen, könnten Patienten sowohl im frühen als auch im späten Stadium der Krankheit davon profitieren."