Ungarn: Ökonomen vermissen konsequente Reformen. | Oppositionsführer Orbán: "Eine Million neue Arbeitsplätze in zehn Jahren". | Budapest. Ungarn, einstiger Musterknabe der Transformation, scheint ökonomisch im freien Fall. Zuletzt legte die Wirtschaft nur noch minimal zu - was umso ernüchternder im Vergleich zum direkten Nachbarn Slowakei ist, der in jüngster Zeit kontinuierlich mit Wachstumsraten nahe der 10-Prozent-Marke aufwartet. Indikatoren wie steigende Arbeitslosigkeit, die laut OECD zweithöchste Steuerbelastung innerhalb der Europäischen Union, ein sehr kompliziertes Steuersystem, zunehmende Korruption, sinkende Realeinkommen und eine wachsende Verschuldung der privaten Haushalte verstärken den düsteren Eindruck.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Dem Ende April veröffentlichten "Länderbericht 2007" des renommierten Politikforschungsinstituts Political Capital zufolge hat die ungarische Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr deutlich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Das wirke den positiven Bemühungen zum Abbau des Haushaltsdefizits entgegen, das inzwischen bei vier statt wie vor zwei Jahren noch bei zehn Prozent liegt.
Warnung vor Druck auf Ungarns Nationalbank
Das Institut warnte im Übrigen zum Wochenauftakt vor wachsendem politischen Druck auf die Ungarische Nationalbank, die den Leitzinssatz in den vergangenen Monaten kontinuierlich nach oben geschraubt hatte und dafür zuletzt sowohl von der Regierung als auch von der Opposition heftig kritisiert worden war. Allerdings agierten die Währungshüter zurzeit so, als gelte es allein, die Inflation einzudämmen, merkt Political Capital weiter an. Nach jüngsten Schätzungen wird die Inflationsrate in diesem Jahr bei 6,5 Prozent und damit höher als geplant sein.
Trotzdem sehen manche mittelfristig Licht am Ende des Tunnels. Viktor Orbán, Chef der größten Oppositionspartei Fidesz, geht beispielsweise davon aus, dass innerhalb eines Jahrzehnts eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Zoltán Cséfalvay, Professor für Wirtschaftsgeographie an der Andrássy-Universität in Budapest, hält es für eine besondere Stärke der ungarischen Wirtschaft, dass die Unternehmen trotz aller politischen Fehler, die in den letzten sechs Jahren gemacht worden seien, "überhaupt noch funktionieren und wirtschaften".
Zurzeit sei so etwas wie ein "Aufstand der Unternehmer" zu beobachten. Denn Premier Ferenc Gyurcsány agiere als "politischer Unternehmer", der nur von Kosten-Nutzen-Rechnungen ausgehe.
Stattdessen wäre es notwendig, den Wirtschaftsakteuren wieder mehr zuzuhören, zumal es der Regierung nicht gelungen sei, ein Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das für die Zeit nach der ersten Transformationsperiode tauge, als Ungarn noch ein sehr hohes Wirtschaftswachstum verbuchen konnte. Die Defizitquote könnte heute schon bei drei Prozent liegen, wenn konsequent am Konvergenzprogramm gearbeitet worden wäre, das Ungarn im Jahre 2005 in Brüssel vorgelegt hatte, so Cséfalvay. Stattdessen seien aber nur kleine Schritte anstatt durchgreifender Reformen unternommen worden.
Steuern: Großer Aufwand für kleine Beträge
Eine "flat tax", für die sich in jüngster Zeit die Vorsitzende der oppositionellen MDF Ibolya David ausgesprochen hat, hält Cséfalvay für kein Allheilmittel. Das rasante Wirtschaftswachstum etwa in der Slowakei habe nicht notwendigerweise nur etwas mit einem niedrigen einheitlichen Steuersatz zu tun.
Vielmehr gehe es darum, den Unternehmern wieder ein "Freiheitsgefühl" zurückzugeben, das bei der momentan sehr hohen Steuerbelastung verloren gehe - am besten durch eine Steuerreform, die auch die Eintreibung der Steuern miteinbezieht. Denn gerade bei vielen der "kleinen" Steuern stehe der Aufwand, sie einzutreiben, in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Einnahmen.